Der geheime Garten

Film-Kritik von Yannic Niehr (10.2020)/ Titelbild: © Studiocanal.

Ein Klassiker in frischem Gewand

1947: Nachdem ihre Eltern von der Cholera dahingerafft wurden, wird die kleine Mary Lennox vom in kämpferischen Auseinandersetzungen befindlichen Indien, wo ihr Vater (ein britischer Offizier) stationiert war, nach England geschickt. Dort soll sie fortan bei ihrem buckligen Onkel, Archibald Craven, auf dessen Landsitz Misselthwaite im britischen Hochmoor leben, der im Krieg als Lazarett gedient hat. Archibald ist seit dem Krankheitstod seiner Frau vor einigen Jahren eigenbrötlerisch und bedrückt und lässt sich kaum blicken, und auch die Bediensteten des Anwesens können mit einem Mädchen nur wenig anfangen – allen voran die geschäftige, strenge Haushälterin Mrs. Medlock. Mary selbst ist allerdings auch kein einfaches Kind und aufgrund der Vernachlässigung durch ihre Mutter, die sie nicht zu vergeben bereit ist, ein wenig verbittert, herrisch und selbstsüchtig. Nur der Magd Martha Sowerby gelingt es überhaupt, eine Beziehung zu Mary aufzubauen.

Die meiste Zeit jedoch kann Mary sich nur die Zeit vertreiben, indem sie allein die Misselthwaite umgebende Natur durchstreift. Ein streunender Hund (den sie bald Jemima nennt, ohne zu ahnen, dass es sich um einen Jungen handelt) führt jedoch bald zu einer weiteren Entdeckung: Hinter einer von Moos und Efeu überwucherten Mauer findet Mary einen geheimnisvollen, verwilderten Garten vor. Und auch im Haus gibt es bald Neuigkeiten: Mary geht einem unheimlichen Geheule nach, welches sie nachts um den Schlaf bringt, und findet als dessen Urheber ihren Cousin Colin vor. Ein sich entwickelnder Buckel, dem seines Vaters nicht unähnlich, fesselt den schnöseligen Jungen ans Bett.

Doch in Misselthwaite ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint, und Mary glaubt an die heilsamen Zauberkräfte des geheimen Gartens. Gemeinsam mit Marthas Bruder Dickon, der ebenfalls häufig in den Mooren unterwegs ist und den sie auf einem ihrer Streifzüge kennengelernt hat, befördert sie Colin heimlich per Rollstuhl aus seinem Zimmer und in den Garten, wo sie nun immer mehr Zeit verbringen und sogar etwas in Erfahrung bringen, das sie ihre Familiengeschichte in neuem Licht betrachten lässt. Welche Geheimnisse hält dieser Garten noch versteckt...?

Verwunschenes Grün

Frances Hodgson Burnetts The Secret Garden von 1911 hat sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem Klassiker britischer (Kinder-)Literatur entwickelt und wurde bereits mehrfach verfilmt. Nun gibt es diese neue Adaption für eine weitere Generation, die mit dem Urstoff nicht mehr vertraut sein dürfte. Die Handlung ist von kurz vor der Jahrhundertwende nun in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt und schafft einen neuen Kontext für die Reise nach England der kleinen Waise Mary. An der Ausgangssituation und dem Setting ändert dieser neue Kontext aber nicht viel; nur die Figuren haben ein kleines Update erfahren. So ist Mary zwar eingebildet und egoistisch, hat aber auch eine sanfte, verletzliche Seite, die sich z.B. in ihrem Hang zur Verspieltheit äußert. Die Geschichte wird nun zu der eines kleinen Mädchens, das seine blühende Fantasie nutzt, um mit einer harten Wirklichkeit klarzukommen, ähnlich wie in Guillermo del Toros Pans Labyrinth.

Auch visuell erinnert der Film an dieses Märchen für Erwachsene: Misselthwaite wird drückend, düster und gelegentlich etwas gruselig in Szene gesetzt (für die ganz kleinen vielleicht sogar zu gruselig), was einen schönen Kontrast bietet zu den späteren Szenen im Garten. Dieser ist kein typisch britischer Rosengarten, sondern eine dschungelartige Mischung von heimischen und exotischen Pflanzen, was der Verfilmung einen sehr originellen Anstrich verleiht. Die Darstellung des Gartens hätte zwar noch schöner und üppiger ausfallen dürfen, beeindruckt aber in der Wandlung, die dieser vollzieht, je öfter sich die Kinder dort aufhalten: Die Pflanzen nehmen deren Stimmungen auf, verändern sich, scheinen zu leben – und bieten gegen Ende einen prachtvollen Farbteppich. CGI kommt dabei erfreulich sparsam zum Einsatz, dafür aber tolle Effekte mit Wind und Lichtreflexionen, die einen Hauch Magie und märchenhafte Mystik erzeugen. Auch Marys Kostüme sollte man im Auge behalten …

„Verlust verändert die Menschen.“

Die Entscheidung, den Garten tatsächlich zu einem Zaubergarten zu machen, ist thematisch fragwürdig, bietet aber einiges fürs Auge. Dazu ist der Film gut besetzt: Dixie Egerickx überzeugt auf ganzer Linie als Mary, auch wenn es schön gewesen wäre, hätte sie eine etwas größere Charakterwandlung vollziehen dürfen. Amir Wilson ist sehr sympathisch und charismatisch als Dickon, und Edan Hayhursts Colin wächst einem ebenfalls schnell ans Herz, als dieser beginnt, aufzutauen. Tatsächlich stiehlt das junge Ensemble den alteingesessenen erwachsenen Schauspielern durchweg die Schau: Julie Walters spielt Mrs. Medlock routiniert, aber ohne große Feinheiten, und Colin Firth, dessen Part fast zur Nebenrolle degradiert ist, spielt ebenfalls nicht sein ganzes Können aus. Einzig Isis Davis als warmherzige Martha hinterlässt noch einen bleibenden Eindruck. Auch hätte man den gelungenen Bildern mehr Luft zum Atmen lassen können: Oft hat man den Eindruck, der Film hetzt geradezu durch die emotionalen Momente; vor allem der Schluss geht sehr schnell vonstatten. So funktionieren auch nicht alle (optisch sehr malerisch gehaltenen) Übergänge zu Rückblenden in die Vergangenheit gleich gut.

Neben dem actionreichen Finale (der Schluss des Romans schien den Machern für die heutige Generation vielleicht nicht aufregend genug) erlaubt sich der Film zahlreiche Änderungen, spielt aber teils raffiniert mit den Themen der Vorlage bzw. baut Neues darauf auf. So steht das Thema des Verlustes stark im Zentrum. Wie dieser Menschen charakterlich verändert, aber auch, wie man ihn überwindet und Samen für eine buntere Zukunft säen kann – das ist der rote Faden, der den Film im Herzen zusammenhält.

Fazit

The Secret Garden ist ein einfühlsames, kurzweiliges, familientaugliches Fantasyabenteuer, das vor allem mit eindrücklichen Bildern (Regisseur Marc Munden stand auch schon bei Paddington, ebenfalls Neuverfilmung eines britischen Kinderklassikers, hinter der Kamera), einem hervorragenden Soundtrack und einer glänzenden Riege an Nachwuchsschauspielern begeistern kann. Die Zeichnung der Handlung und Figuren und das Einflechten neuer Ideen gelingt aber nicht durchweg rund, und es bleibt zu hoffen, dass der Film auch eine heutige Generation an Eltern und Kindern neugierig aufs (Vor-)Lesen der berühmten Buchvorlage machen wird.

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