An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China

  • Moritz
  • Erschienen: September 2009
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An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China
An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China
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Kinderbuch Couch
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Kinderbuch-Couch Rezension vonSep 2009

Idee

Chens harte Kindheit ist geprägt durch die Kulturrevolution in China, doch die Liebe und Fürsorge der Großeltern gibt ihm Kraft und Zuversicht

Bilder

in aussagekräftigen, filigran und präzise gezeichneten, realistischen Bildern dokumentiert Chen entscheidende Episoden seiner Kindheit

Text

Chen Jianghong analysiert das Geschehen nicht, er schreibt aus seiner Sicht als Kind, dadurch wird er zum stillen Beobachter der Zeitereignisse

[ab 7 Jahren]

Ausgezeichnet mit dem Kinderbuch-Couch-Star*. Chen wohnt mit seinen Eltern, den Großeltern und den zwei Schwestern in Tianjin, einer Großstadt im Norden Chinas. Die Familie ist sehr arm. Die Mutter und der Vater arbeiten den ganzen Tag und so kümmern sich die Großeltern um die Enkel. An Großvaters Hand fühlt sich Chen geborgen, er ist sein lebenskluger Ratgeber. 1966 ruft Mao Zedong die Kulturrevolution aus und das bedeutet für Chen eine Kindheit ohne Bücher und Bilder. Mit sanfter Stimme erzählt der chinesische Künstler, in Worten und Zeichnungen, episodenhaft und realistisch von seinen schmerzhaften, aber auch schönen Erinnerungen an seine Kindheit.

Eintönig und grau ist das erste Bild, dass den Wohnblock aus den Fünfzigerjahren zeigt, in dem Chen, drei Jahre alt, und seine Familie wohnt. Es ist Frühling im Jahr 1966. Den einzigen Farbakzent bildet ein roter Lampion, der an einer freien elektrischen Leitung schwebt.

Die siebenköpfige Familie lebt in einer dunklen Erdgeschosswohnung unter sehr ärmlichen Bedingungen. Die Großmutter näht die Kleidung für die Kinder und kocht trotz Mangelwirtschaft köstliche Gerichte. Chen muss immer zu große Sachen tragen, damit er hineinwachsen kann. Der Umgang der Familie und der Kinder untereinander ist sehr liebevoll und warmherzig. Chen schmiegt sich im Schlaf an die Großmutter, die mit einer Handarbeit beschäftigt ist, der Großvater hält den Enkel an der Hand oder Chen sitzt auf seinem Schoß und malt. Die großen Schwestern, eine ist taubstumm, zeigen dem Kleinen die Gebärdensprache und lehren ihn erste Zeichen zu malen. Chen erbt alles von seinen Geschwistern. Er hat kaum Spielzeug, nur ein paar Bauklötze. Als er dem Großvater sagt, dass ihm nichts mehr einfällt, rät der ihm weiterzumachen, denn wenn er erst mal eine einzige Sache begriffen hat, dann kann man alles begreifen. In Bilderfolgen zeigt nun der chinesische Maler wie der kleine Junge seine Klötzchen bewegt und am Ende ein kunstvoller Turm entstanden ist.

Der Junge erzählt aus seiner Sicht vom schweren Alltag der Familie, der für ihn ganz normal ist. Die behinderte Schwester muss früh aufstehen, um zu ihrer Schule zu gelangen. Der Strom fällt aus. Die Großmutter zieht Hühner groß, um ein bisschen Geld zu verdienen. Die Kinder arbeiten und sparen Münze für Münze, um sich Bonbons zu kaufen. Eine geliebte Katze läuft einfach fort und alle sind traurig.

Dann verunsichert die Kulturrevolution das Land und plötzlich erscheinen Menschenmassen in den Bildern, Propagandaschriften bestimmen das Leben und die Außenwelt bricht in die familiäre Idylle ein. Bewegung kommt in die Zeichnungen und der Betrachter spürt die Bedrohung und Ohnmacht der Menschen. Frau Li, die kunstliebende Nachbarin, bei der Chen Musik hören kann und die ihm zeigt, wie man aus Bonbonpapier Tänzerinnen faltet, wird öffentlich grausam gedemütigt und abtransportiert. Der Junge wird Augenzeuge und kann nicht begreifen, was geschieht. Der Vater gibt Chen für das letzte gemeinsame Familienfoto das obligatorische Plastikgewehr. Chen ist begeistert von der Waffe und will sie nicht mehr hergeben. Erst als der Vater ihm verspricht, dass er ihm auch so ein Gewehr kaufen wird, lässt der Junge los. Nie wird der Vater ihm diese Waffe schenken. Die Großeltern leben in Angst und verbrennen ihr großes Tigerbild und die persönlichen Fotos aus vergangenen Zeiten. Mao, seine Fibel, die Propaganda und die Rotgardisten dominieren das Leben. Chen trägt ein Bild des großen Führers immer vor sich her. Im Haus der Eltern hängt nun ein Bild von Mao und schriftlich die Behauptung, dass nun der Wohlstand da sei. Doch die Familie von Chen darbt. Sie haben kaum Geld, leben von Kohl und Kartoffeln im Winter. Dann muss der Vater die Familie verlassen und in einem Umerziehungslager an der russischen Grenze arbeiten. Chen vermisst den Vater und sucht ihn vor dem Einschlafen in seinen Fantasiebildern an der rissigen Wand.

Chen zeichnet gern. Die Familie kann sich jedoch kein Papier leisten und so malt der Junge mit Kreide auf dem Boden. Der kleine Chen wirkt oft sehr konzentriert, kaum ausgelassen oder fröhlich. Langsam soll sich der Enkel vom Großvater lösen und zur Schule gehen. Mit sieben Jahren wird Chen eingeschult. Er lernt gern, spielt mit den Kindern und langweilt sich auch. Er liebt das Kino und interessiert sich für alles Neue. Als der Junge Rotgardist der Kommunistischen Partei Chinas wird, läuft er stolz nach Hause. Seine Freude kann er mit dem Opa nicht mehr teilen, denn er liegt im Sterben. Chen überwindet seine Angst und steigt aufs Dach des Hauses, um dem toten Großvater nah zu sein. Zum ersten Mal stellt der Junge sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Eine schwere Zeit bricht für Chen und die Großmutter an. Die Parteifunktionäre ordnen das Abschlachten der Hühner an. Ein schwerer Schlag für die Oma, denn das Federvieh tröstete sie über ihren Verlust. Chen spürt die Ungerechtigkeiten, die Härte der Zeit und diese zeichnet der chinesische Maler dem Jungen ins Gesicht. Als die Schule geschlossen wird und der Junge in der Fabrik, auf dem Feld oder auf dem Exerzierplatz lernen soll, verrinnt die Begeisterung. Aber Chen ist ein hartnäckiger Junge, der lernen will. Immer wieder fällt er vom Fahrrad. Er übt so lang bis er fahren kann. Mit dem Tod Maos endet die Erzählung. Chen ist 13 Jahre alt, der Vater kehrt zur Familie zurück und der Junge berichtet davon, dass er in Peking bildende Kunst studieren wird. Auf dem letzten Bild sieht man ein traditionelles chinesisches Haus und eine Industriesiedlung. Chen kehrt immer wieder nach China zu seiner Familie, die noch immer im alten Haus lebt, zurück. Er wohnt seit langem im Ausland.

Sein Bilderbuch "An Großvaters Hand" liegt Chen Jianghong sehr am Herzen. "Ich habe alles gegeben für dieses Buch." erzählte er im Oktober 2008 der Zeitschrift "Eselsohr". Wenn es nicht ankommen sollte, so wolle Chen keine Bücher mehr machen. Keine Frage, dieses Buch kommt an, denn es erzählt literarisch und visuell Chens Erlebnisse auf berührende und für Kinder verständliche Weise.

Der chinesische Künstler Chen Jianghong, der seit über zwanzig Jahren in Paris lebt, nimmt gern alte chinesische Themen und Illustrationsstile bzw. Techniken auf und entwirft damit moderne Geschichten. 2005 erhielt er für sein Bilderbuch "Han Gan und das Wunderpferd" den Deutschen Jugendliteraturpreis. Hat sich Chen bisher den traditionellen Mythen und Legenden Chinas auf märchenhafte Weise in strahlend farbintensiven Bildern zugewandt, so erzählt er in seinem neuen Bilderbuch farblich eher verhalten, aber sehr persönlich und ungeschminkt von seiner Kindheit.
Mittlerweile ist der Maler und Autor Mitte Vierzig. Sicher musste viel Zeit vergehen, um gelassen auf eine Kindheit zu schauen, die von den äußeren Bedingungen her betrachtet, entbehrungsreich und schwierig war. Ohne Wertung, Kommentierung und fern jeglichen Selbstmitleids greift der erfahrene Künstler entscheidende Episoden und Szenen auf, die seine Kindheit vom dritten bis dreizehnten Lebensjahr geprägt haben. Bestimmt wurde seine Entwicklung zum einen durch die liebevollen Großeltern, aber auch den politischen Machtanspruch der Vertreter der Kommunistischen Partei. Von Betonblocks umgeben - Ausflüge in den Park am Sonntag sind eher eine Seltenheit - hört der kleine Junge hingebungsvoll die Musik Mozarts bei der Nachbarin, die eines der Opfer der Kulturrevolution werden soll. Wird auf der einen Seite vom Wohlstand gesprochen, so widerlegen die ärmlichen Lebensumstände der arbeitsamen Familie jegliche Politpropaganda. In einem Interview (BuchMarkt 09/09) sagte Chen: " Es hat über dreißig Jahre gedauert, bis ich dieses Buch ohne Hass, Wut und Rachegefühle schreiben konnte."

Aus der Perspektive des Kindes erzählt, öffnet sich für den Betrachter der Blick in eine fremde, fernöstliche Welt, die gar nicht so fern ist, denn im Mittelpunkt der Erinnerungen stehen die Alltagserlebnisse und Erfahrungen, die jedes Kind durchleben muss - die Katze läuft weg, ein Familienmitglied stirbt, die Schule beginnt und vieles mehr. Die politische Indoktrinierung durch das kommunistische System wird in der Familie hingenommen und doch spürt der Betrachter gerade in den Bildern Chens, die Zweifel. Der Großvater senkt den Kopf hilflos als sein Bekannter, mit dem er gern im Park gestritten hat, als Verräter durch die Straßen gejagt wird. Der Vater kauft dem Kind nicht das heiß ersehnte Gewehr und die fanatisch blindwütigen Rotgardisten werden furchterregend dargestell, so wie sie auf ein Kind damals gewirkt haben müssen.

"Mit fünf Jahren habe ich beschlossen, Maler zu werden und habe von da an 13 Jahre lang jeden Tag 100 Buchstaben gezeichnet." ergänzt Chen in einem anderen Interview (Eselsohr 10/08). Hart musste er arbeiten, um so meisterlich malen zu können. Auf 80 großformatigen Seiten ist nun ein lebendiges Bild vom Lebensalltag im kommunistischen China von 1966 bis 1976 entstanden, filigran und präzise gezeichnet mit Pinsel und Tusche auf Reispapier. Wie auch schon in anderen Bilderbüchern unterteilt Chen seine Bilder. Dadurch entsteht Dynamik und die Geschichte wird durch die einzelnen comicartigen Sentenzen detailreich weitererzählt. Ist der europäische Buchmarkt für die innovativen Bilderbücher Chens offen, so zeigt der chinesische kaum Interesse an den Arbeiten des Künstlers.

Chen Jianghong sagt, dass er jetzt die Bilderbücher macht, die in seiner Kindheit gefehlt haben.

Fazit:

Chen Jianhong hat die Beziehung zwischen den Generationen bereits öfter thematisiert. In seinem neuen Bilderbuch "An Großvaters Hand" nimmt er dieses Motiv wieder auf und erzählt von seinen persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen an die Großeltern und seine Kindheit. Die realistisch erzählte Geschichte über die Zeit der Kulturrevolution mag für europäische Kinder fremd wirken. Doch Chen wählt als Erzählperspektive die des Kinder und dadurch stellt sich für junge Leser eine Vertrautheit her, wenn es um das Spielen, Entdecken und Beobachten der realen Umwelt geht. Jeder, der das Buch in die Hand nimmt, begleitet den Künstler ein Stück seines Weges und wird neugierig auf seine bisherigen und künftigen Bücher.

Karin Hahn

 

An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China

Chen Jianghong, Moritz

An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China

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