Als Opapi das Denken vergaß

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Sigrid Tinz
85%1001

Kinderbuch-Couch Rezension vonJul 2014

Idee

Realistische und zugleich fantastische Geschichte mit einem rührenden, pragmatischen Ende um Mia und ihren Opapi, der die Verwirrtheit hat und bei ihr ins Haus zieht.

Text

Gut verständlich und aus der Perspektive von Mia – die oft weitschweifig und altklug erzählt. Aber weil sie so patent mit Opapi umgeht, nimmt man es ihr nicht übel.

Schön und tröstlich

Demenz. Davon sind rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Meist sind es ältere Menschen, jenseits der 60, 70, 80. Die Diagnose stellt oft die ganze Familie vor neue Tatsachen. Und wenn die Kranken Oma oder Opa sind, betrifft es immer auch die Enkelkinder. Und nichts liegt näher, als das Thema auch im Kinderbuch aufzugreifen, ob direkt als Ratgeber- oder Erklärbuch oder eben einfach, weil es ein Thema unserer Welt ist. Dies ist eines davon.

Mia wohnt mit ihren Eltern und den Zwillingen Nils und Joni in Hamburg und eines Tages zieht ihr Uropa in die Wohnung, die gerade im Erdgeschoss freigeworden ist. Vom anderen Ende Deutschlands, vom Bodensee. Weil, er ist verwirrt und kann nicht mehr gut alleine leben. So haben es die Eltern Mia erklärt. Mia freut sich, denn mit ihrem Opapi verbindet sie viel mehr als mit ihrem Opa und ihrer Oma, die vom Typ neue Rentner und in der Weltgeschichte unterwegs sind. Was das mit der Verwirrtheit auf sich hat, kann sie sich anfangs nicht vorstellen. Sie nimmt sich vor, sich gut um Opapi zu kümmern; dann wird er sich schon sortieren. Sie kann ihn ja daran erinnern, wie man sich die Schuhe zumacht und dass man sich die Zähne nicht mit Handcreme putzt. Und: Mia ist einfach gern mit ihm zusammen. Am liebsten sitzen die beiden dann in seiner Wohnung, jeden Tag nach der Schule noch vor dem Mittagessen und schauen Fotos von früher an - Mia versucht, sich alles zu merken, für Opapi sozusagen, damit sie es weiß, wenn er es endgültig vergessen haben sollte. So weit ein typisches Kindern-die-Demenz-erklären-Buch. (Opapi ist keiner der Dementen, keiner der laut, ungeduldig, unkontrolliert und aggressiv ist, keiner der rülpst, pupst, müffelt oder sabbert.)

Es ist ein bisschen netter als viele andere. Weil die einzelnen Personen sehr viel eigene Persönlichkeit haben und es eben nicht nur zack um die Demenz geht, sondern auch um kleckernde Zwillingsbrüder, Schulunterricht und beste Freundinnen.

Und es ist ein bisschen anstrengender, weil der Erzählstil - erzählt wird aus der Sicht von Mia - betulich, altklug und blumig ist. Alles - was beste Freunde machen und was nicht, was Erwachsene machen, und warum und was sie alles nicht verstehen und dass Erwachsene manchmal zu erwachsen sind um etwas zu verstehen, erklärt, umschreibt und kommentiert sie ausgiebig. Das meiste hat man sich als Leser und Leserin schon selbst gedacht und zwar deutlich schneller. Mia lacht oder weint auch nicht einfach. Nein, ihr kitzelt das Kichern im Hals, der Trauerkloß steigt vom Magen in die Kehle auf und macht sich da breit. Und wenn sie Angst bekommt, dann braucht es eine halbe Seite, bis die Angst durch den Flur auf sie zu gekrochen ist, sich ihren Rücken hinauf geschlängelt und dann auf ihre Schultern gelegt hat und dann in ihren Magen umgezogen ist. Und: nichts Wichtiges passiert, ohne dass der Leser nicht sätzelang darauf vorbereitet wird. Opapi zieht nämlich nicht einfach an einem Mittwoch ein. Nein. Er zieht an einem dieser Tage ein, die anfangen als wären sie nichts Besonderes, aber wenn man genau aufpasst, ist schon morgens etwas ein bisschen anders und daran kann man sehen, dass der Tag ganz und gar nicht normal wird, wie - na endlich - der Mittwoch, als Opapi ankam.

Wer schnelle, schlichte Texte mag, dem können diese betont kreativen Umschreibungen die Lektüre verleiden. Ansonsten: geschenkt.

Denn jetzt wird diese Demenz-Geschichte fantastisch, magisch und nimmt uns mit in eine andere Welt. Denn Opapi ist nicht allein gekommen. Sondern auch Berti wohnt in seiner Wohnung, heimlich. Weder Opapi noch Mama oder Papa wissen von ihm. Berti ist ein frecher, netter, unternehmenslustiger, aber etwas seltsamer Junge, der ein wenig altmodisch wirkt und ein und aus geht, wie es ihm passt. Nach anfänglichem Schreck freut sich Mia jedes Mal, Berti zu treffen und mit ihm etwas zu unternehmen. Statt Fotos von Lindau und früher anzuschauen, nimmt er sie "wirklich" mit in seine Heimat. Die beiden streifen Nachmittage lang durch das Städtchen am Bodensee, laufen Schlittschuh, feiern und hocken in Bertis Geheimversteck unterm Dach seines Elternhauses, dem Abseitel und schmausen süße Brötchen.

Berti ist wie ein Tor zu einer anderen Welt. Die immer dann abrupt verschwindet, wenn Opapi oder ein Erwachsener auftaucht oder es an der Tür klingelt. Anfangs. Aber dann verschränken sich die beiden Welten immer öfter. Den Erwachsenen ist schnell klar, dass Berti "kommt", wenn Opapi in einer verwirrten Phase ist und sich nur noch an Dinge erinnern kann, die er schon vor ganz langer Zeit erlebt und gespeichert hat, als Kind eben. Aber es ist spannend, zu lesen, wie dieses Bild nach und nach klar werden lässt, was es mit der Verwirrtheit auf sich hat: "Berti ist Berti. Und Opapi ist eben Opapi. Und trotzdem sind sie ein und derselbe. Berti kann man nicht sagen, er ist eigentlich Opapi und in Hamburg gut aufgehoben." Und soll sich zusammenreißen und anstrengen und sich erinnern. Wenn er gerade Berti ist, dann ist er Berti. Der nur Heimweh nach Lindau und seiner Mama hat. Ein 9-jähriger Junge kann sich an nichts erinnern, weil er es noch nicht erlebt hat. Er hat keine Enkelkinder, die in Hamburg gut auf ihn aufpassen.

Das Buch ist nicht so magisch und fantastisch, dass Mia es schafft die Verwirrtheit aufzuhalten. Aber patent wie sie ist, schafft sie es, dass sich Opapi und Berti in Hamburg zu Hause fühlen.

Hier muss ein kleiner Einschub sein, denn in der Realität sollte sich kein kleines Mädchen und kein kleiner Junge so für einen dementen Großelternteil zuständig fühlen müssen; alles managen, sich um den Opa kümmern und dann auch noch die Eltern trösten. Es gibt eine Szene in dem Buch, in der Mia sich bei ihrer Mama auf den Schoß setzt, und obwohl "sie es besser fand zu stehen, blieb sie sitzen", denn manchmal sind es auch die Mamas für die es wichtig ist, das man auf ihrem Schoss sitzt. Das stimmt zwar, aber es sollte so nicht sein und Mia hat Verantwortung für so vieles, für das eigentlich die Erwachsenen zuständig sind.

Aber: das Ende ist schön und tröstlich, herrlich pragmatisch, nachahmenswert und ungewöhnlich. Und wird hier nicht verraten.

Fazit

Demenz ist ein Thema mit vielen Mythen, Unsicherheiten und Ängsten. Umso wichtiger, dass Kinder darüber Bescheid wissen. In diesem Buch sind ganz, ganz viele wichtige Aspekte in eine nahezu magische Geschichte eingeflochten - die schön ist auch für Kinder, deren eigene Familie nicht direkt betroffen ist. Und für den Fall, dass die alte Dame von gegenüber plötzlich klingelt und sagt, sie sei ausgeraubt worden, kennen auch sie sich ein bisschen aus.

 

Als Opapi das Denken vergaß

Uticha Marmon, Magellan

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