Marie und die Dinge des Lebens

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Kinderbuch-Couch Rezension vonNov 2014

Idee

Ein Mädchen und seine Oma - der Text ist auf die beiden Hauptpersonen fokussiert. Alle übrigen Charaktere bleiben Randfiguren. Das bringt das Besondere dieser Beziehung gut zur Geltung.

Bilder

Die Illustrationen sind in ihrer unverwechselbaren Bildsprache ähnlich anrührend wie der Text - und erzählen darüber hinaus noch ganz viele eigene Geschichten. Illustrationen von Kaatje Vermeire

Text

Weniger ist manchmal mehr, vor allem wenn Text und Bild so gut ineinandergreifen. Das Buch braucht nur wenige klare Worte, um viel zu sagen. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf.

Marie und ihre Oma - das ist ein ganz besonderes Paar. Das gilt erst recht, als die Großmutter, mit der Marie doch immer so gut reden konnte, keine Worte mehr hat.

Marie will alles. Sofort und auf der Stelle. Das war schon so, als sie geboren wurde. Ihr Mutter saß gerade im Korbstuhl unter dem Kirschbaum und las ein Buch, da drängte es Marie auf die Welt: "Lass mich raus! Auf der Stelle!" Und so geschah es, dass Marie im Korbstuhl geboren wurde.

Kein Wunder, dass der Kirschbaum zum prägenden Ort ihrer Kindheit wird. Er ist der Ausgangspunkt, wenn sie durch den Garten rennt. Am Kirschbaum hängt Maries Schaukel und in den Kirschbaum klettert sie zusammen mit Großmama und brüllt die Vögel an, damit sie die Kirschen in Ruhe lassen. Denn Großmama ist Maries beste Freundin - genauso ungeduldig und genauso verrückt nach Keksen. Sie erzählen sich Geschichten und naschen, bis sie vor lauter Zucker und Krümeln aneinander kleben. Wobei es mit Sicherheit nicht nur der Zucker ist, der sie aneinander bindet.

Marie und Großmama brauchen keine Worte, um einander zu verstehen. Und so ist auch Marie die einzige, die Zugang zu ihrer Großmutter findet, als diese schwer erkrankt, ins Koma fällt und ganz verändert wieder erwacht. Sie spricht nicht mehr und starrt stattdessen den ganzen Tag auf den Fernseher. Doch dank Maries Hartnäckigkeit kommen allmählich die Worte wieder. Nur versteht keiner, was Großmama sagt - bis auf Marie. Sie pflückt ihr die Buchstaben aus dem Mund. Langsam und vorsichtig: "Hört ihr denn niemand zu? Pommes wollte sie, und ein Steak" - und nicht Suppe.

Da stirbt Großpapa. Marie und ihre Großmutter trauern gemeinsam, und als Großmama ihren verstorbenen Mann noch einmal sehen möchte, finden sie dank der Hartnäckigkeit des Mädchens gegen allen Widerstand einen Weg.

Denn diese Marie ist großartig. Laut und wild, aber zugleich mit einem ganz sensiblen Gespür für die Bedürfnisse der Menschen, die sie liebt. Es ist eine kleine, leise und gerade deshalb große Geschichte, die die belgische Autorin Tine Mortier in der Übersetzung von Rolf Erdorf in diesem anrührenden Bilderbuch erzählt. Unaufgeregt, ohne Pathos, voller Zwischentöne. In geradezu lakonischem Tonfall führt der Erzähler durch die Ereignisse: "Eines Tages lag Großmama auf dem Boden. Sie sei gestolpert, sagte Großpapa. Marie glaubte ihm kein Wort." Dazwischen erklingt immer wieder - fett gedruckt - Maries Stimme: "Was ist denn los? Warum ist alles plötzlich so schwierig?"

Warum genau es Großmama plötzlich so schlecht geht, ob es ein Schlaganfall war, der ihr die Sprache geraubt hat, oder eine andere Erkrankung, wird nicht erzählt. Es ist auch nicht wichtig. Kinder interessieren keine medizinischen Diagnosen. Sie sehen, beobachten, fühlen die Veränderungen. Und können deshalb, so wie Marie, verstehen, was die Erwachsenen in ihrer Routine - ein kranker Mensch braucht doch eine Suppe und keine Pommes - nicht erkennen.

Illustratorin Kaatje Vermeire findet dafür sehr poetische Bilder: Wenn der Text erzählt, dass Marie ihrer Großmutter die Buchstaben ganz vorsichtig aus dem Mund pflückt, dann zeigt die doppelseitige Illustration ein Mädchen, das Buchstabe für Buchstabe auf einer Wäscheleine aufreiht. Die Bilder erinnern an verblassende Fotografien, manches gestochen scharf, manches schemenhaft. Realität und Traum, Erinnerung und Gegenwart verbinden sich zu einer ganz eigenen Welt. Dazu Details mit Wiedererkennenswert: ein Eichhörnchen, die Kirschen vom Baum, den Marie und Großmama so lieben.

Fazit:

Marie und die Dinge des Lebens ist ein von der ersten bis zur letzten Seite gelungenes Bilderbuch. Eine Geschichte, die mit wenigen Worten sehr viel erzählt über das ganz besondere Band zwischen Enkeln und Großeltern - und darüber, dass Kinder oft sehr viel mehr verstehen von den Dingen des Lebens, als die Großen ihnen zutrauen.

Eva Dignös, November 2014

Marie und die Dinge des Lebens

Tine Mortier, Bohem Press

Marie und die Dinge des Lebens

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