Lucy rettet Mama Kroko

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Kinderbuch Couch
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Kinderbuch-Couch Rezension vonMai 2005

Idee

Eine poetische und spannende Erzählung über die Identitätssuche, vom Verlust der Wurzeln und vom Erkennen der eigenen Besonderheiten. Lucy und ihre sympathische Krokodilsfamilie lassen unsere Kinder den Atem anhalten und mitfiebern.

Bilder

Die Illustrationen sind Spiegel der emotionalen Hintergründe. Mal auf das wesentliche reduziert und dann wiederum verschwenderisch angefüllt mit Leben und vielen Details, führen sie uns durch Lucys Geschichte.

Text

Poesie, Witz und Fantasiereichtum, die Kinder begeistern und ihre eigene Fantasie anregt. In der teilweise bildhaften Sprache werden ihre Gefühle angesprochen.

[ab 5 Jahren]

Wenn man als kleines Mädchen schon als Findelkind von Tieren aufgenommen wird, dann doch bitte nicht ausgerechnet von Krokodilen - das werden sich wohl die meisten denken. Aber Lucy lehrt uns, dass man ein richtiges Krokodil und ein fröhliches Menschenkind sein kann.

Die Geschichte von Lucy, die Mama Kroko rettet, ist in drei Kapiteln unterteilt. Im ersten Kapitel wird Lucy aus der heilen Welt der Menschen herausgerissen, im zweiten Kapitel wird von ihrem Leben unter Krokodilen berichtet und von ihrem eigenen Dasein als Krokodil. Schließlich aber macht Lucy sich im dritten Teil der Geschichte auf die Suche nach ihrem verschollenen ";Ich"; und schafft es, diese beiden Welten im Außen und im Innern miteinander zu vereinen. Eine dramaturgisch gut gegliederte Aufteilung, die den Entwicklungsprozess des kleinen Mädchens wiederspiegelt und es den Kindern ermöglicht, das Buch auch in mehreren Abschnitten zu lesen, da doch eine inhaltsreiche Geschichte erzählt wird.

Die Autorin gibt zu der Geschichte einige Hintergrundinformationen, aus denen wir entnehmen können, dass sich die Geschichte von Kroko-Lucy vor langer Zeit ereignete. Die meisten von den damals im Deltagebiet des Mississippi lebenden Menschen waren Nachfahren ehemaliger französicher Siedler, die ursprünglich aus Kanada stammten. Sie sind heute noch bekannt für ihre spezielle Art von Musik, für ihr scharfes Essen und ihre ";überschäumenden Lebensfreude";, so die Autorin Sharon Arms Doucet, die heute ebenfalls in Louisiana lebt.

Lucy lebt mit ihren Eltern auf einem Hausboot, tief in den Atchafalaya-Sümpfen von Louisiana. Ihre Welt ist in Ordnung: Mama kocht einen scharfen Eintopf aus Bisamfleisch und Okraschoten und ihr Papa singt eines seiner melancholischen Lieder. Der Tag ist so heiß, ";dass einem fast das Schmalz aus den Ohren troff";. Lucys Vater ahnt bereits, dass ein heftiger Sturm aufziehen wird. Dann geht alles ganz schnell. Der Hurrikan reißt alles mit sich - auch Lucy, die hilflos in seinen Fängen fortgetragen wird. Schließlich landet sie auf einem alten Baum, auf dem sie die Nacht verbringt. Am nächsten Tag aber muß sich Lucy entschließen, ihren sicheren Platz zu verlassen und sieht sich sogleich einem riesigen Krokodil gegenüber. Nach einem zaghaften Fluchtversuch bleibt Lucy nichts anderes übrig, als hinzunehmen, von dem Krokodil gefressen zu werden. Aber nichs dergleichen geschieht:

Mama Kroko hat Lucy bereits fest in ihr Krokodilsmutterherz geschlossen. Mama Kroko tut ihr bestes, um aus ihrer kleinen ";Zuckerschnute";, wie sie Lucy liebevoll nennt, ein gutes Krokodil zu machen. Aber ohne Schwanz, ohne dickem Rückenpanzer, ohne riesigem Maul und mit überhaupt nichts krokodilähnlichem an sich, ist es nun einmal schwer mitzuhalten. Mama Kroko nimmt Lucy dabei stets in Schutz und ermahnt ihre feixenden Reptilienkinder ";Lasst Lucy in Ruhe. Sie ist, wie sie ist."; Aber der Winterschlaf der Krokodile in den eisigkalten Sümpfen leitet für Lucy den Wendepunkt ein. Sie kann irgendwann nicht mehr schlafen - so wie ihre Krokodilsfamilie - und friert ganz erbärmlich.

Als endlich der Frühling in den Atchafalaya-Sümpfen Einzug gehalten hat, ist Lucys eigenes Krokodilsgebrüll, verglichen dem der anderen, nur ein erbärmliches, leises ";Wo-o-nk!";, das die Krokodile eher zum Lachen bringt, statt ihnen Furcht einzujagen. Frustriert verlässt Lucy ihre Familie und macht sich auf die Suche nach etwas, das sie eigentlich schon längst vergessen hatte.

Intuitiv findet sie den Weg zu dem alten, verlassenen Hausboot zurück. Mama Kroko, die ihr gefolgt ist, hat immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen und Lucy ihre Wurzeln suchen würde. Sie erklärt Lucy, dass sie schon ihre richtige Mama sei, aber sie selbst sei nun einmal kein Mensch und Lucy kein Krokodil, sondern ein Mädchen. Dunkel erinnert sich Lucy an ihre Vergangenheit und Mama Kroko ermuntert Lucy, mit ihren Beinen das zu tun, wozu sie geschaffen sind: Sie soll gehen. Ihre ersten unsicheren Schritte führen sie in das halb verfallene Hausboot ihrer ursprünglichen Eltern. Langsam kehren die Erinnerungen zurück; Mama Kroko verlässt nun Lucy - nur sie allein kann ihre alte Welt wieder zu neuem Leben erwecken.

Lucy gelingt es schließlich tatsächlich, ein anderes, eigenes Leben zu beginnen. Sie bringt sich selbst das Kochen bei, trägt ein selbstgenähtes Kleid ihrer Mutter und findet schließlich auch das alte Akkordeon ihres Vaters. Und während sie wahllos verschiedene Knöpfe drückt und dem Instrument eine Reihe wilder Töne entlockt, fällt ihr auch wieder das alte Lied ein, das sie mit ihrem Vater so gerne gesungen hat. Aber sie ist nicht glücklich in ihrem neuen Dasein als Mädchen, ihr fehlt Mama Kroko und das Fauchen und Knurren ihrer Krokodilsfamilie. Sie entschließt sich, ihre Familie zu suchen. Sie findet Mama Kroko, die bereits ein neues Krokodilsnest hütet, und beschwert sich, dass sie, egal für welche Existenz sie sich entscheidet, sie die andere aufgeben müsse. Mama Kroko gibt ihr Recht: ";Du kannst nur Du selbst sein.";

Als Lucy auch ihrem Lieblingsbruder Chomp einen Besuch abstatten möchte, zieht ein Unwetter auf und Lucy ahnt sehr schnell, dass ein Hurrikan im Anzug ist. Sie schafft es noch, zu Chomp zu gelangen und da fällt ihr Mama Kroko ein: Sie sitzt auf ihrem Nest und wird ihre Eier selbst inmitten eines wütenden Hurrikan nicht verlassen wollen.

In einer dramatischen Rettungsaktion nimmt Lucy schnell Mama Krokos Eier an sich und legt sie vorsichtig in ihr Boot. Gemeinsam schaffen die drei es zum Hausboot zurück und weil der Sturm noch immer wütet, packt Lucy das alte Akkordeon ihres Vaters aus und spielt, so laut und wild sie nur kann, gegen den Hurrikan an - der zieht sich schließlich wirklich zurück und eine weitere Generation Krokodilkinder ist gerettet. Mama Kroko ist Lucy so dankbar, daß sie vor Rührung eine echte Krokodilsträne vergießt. Mit ihrem ";Gebrüll"; habe Lucy den Sturm verjagt, so die Krokodilsmutter. Lucy küsst ihre Mama auf die Schnauzenspitze - Mama Kroko hatte sie ja auch damals gerettet.

Von nun an spielt Lucy jeden Samstag zum Tanz auf und spielt die alten Lieder - das gefällt Mensch und Krokodil. Die tanzen gemeinsam und
ausgelassen auf der Veranda des alten Hausbootes - und Lucys Herz tut nicht länger weh, denn es ist wieder zusammengewachsen. Und schließlich weiß Lucy auch, wer sie ist: ";Halb Krokdil, halb Mädchen ... Eben Kroko-Lucy.";

Die Autorin Sharon Arms Doucet erzählt eine humorvolle, spannende Geschichte, die aber auch sehr vom Verlust und von der Suche nach der eigenen Identität geprägt ist. Das vordergründig spannende Geschehen und die humorvollen Details der Geschichte können und wollen sicher nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein kleines Mädchen einen schweren Verlust verkraften muß und kaum in eine unwirtlichere Umgebung kommen kann, als in die wilden Sümpfe der Krokodile. Aber Mama Kroko liebt ihre kleine ";Zuckerschnute"; so sehr, dass das Mädchen ihren Schmerz vergisst und mit ihm auch, woher sie einst stammte. Lucy aber, die später nichts anderes mehr kennt, als das Krokodilsdasein, spürt buchstäblich am ganzen Leib, dass ihr das Zeug zum einem richtigen Krokodil fehlt. Sie muß zwangsläufig an ihrer Unzulänglichkeit verzweifeln. Sie tritt den Rückzug an und ihre innere Stimme leitet sie zurück in ihre verdrängte Vergangenheit. Wie sehr ihre Krokodilsmama sie liebt, erfahren wir und Lucy schließlich, als Mama Kroko sie in ihre menschliche Welt entlässt. Sie weiß, dass sie Lucy nun nicht länger an sich binden darf. Lucy muss schließlich den sehr schweren und schmerzhaften Weg der Erinnerungen allein gehen.

Lucy spürt jetzt den tiefen Verlust, den noch nicht verheilten Riss in ihrem Herzen der entstand, als sie von ihren Eltern fortgerissen wurde. Das Lied ";O yé yaie, mon coeur fait mal."; (";Oh, mein Schatz, mein Herz tut weh.";) das ihr Vater immer auf seine besondere Weise für sie gesungen hatte, begleitet sie in ihrem Schmerz der wieder aufbrechenden Erinnerungen. So wie ihr Leben geteilt wurde, so ist auch ihr Herz geteilt. Lucy kennt weder ihre Identität noch ihren Platz in der Welt. Mama Kroko weiß von Lucys Dilemma und sie weiß auch, dass niemand anderer ihr sagen kann, wer sie ist. Die Botschaft dieser vordergründig turbulenten Gesichte ist, dass wir es alle selbst herausfinden müssen - und dass es nun einmal so ist, daß dieser Weg auch sehr schmerzhaft sein kann. Manche aber werden reich für ihren Mut belohnt; so wie Lucy, die an ihrem Schicksal, und daran wie sie es meistert, gewachsen ist - zu einer starken Persönlichkeit. Denn als Lucy schließlich ihre menschlichen Fähigkeiten einsetzten kann, um Mama Kroko und ihren Nachwuchs zu retten, findet sie endlich den Weg, sich ganz auf sich und ihre (menschlichen) Fähigkeiten zu besinnen und darauf stolz zu sein.

Als sie schließlich ihre beiden Anteile, nämlich Mensch und Krokodil, als Freunde auf ihren Festen zusammenzubringt, wächst auch ihr Herz wieder zusammen und sie singt am Ende eines jeden Liedes ";... mon coeur ne plus fait mal!"; (";... mein Herz tut nicht mehr weh.";).

Die Erzählform und die Sprache von Sharon Arms Doucet ist lebendig und fröhlich, sie strotzt nur so vor Einfallsreichtum und sprachlicher Varianz - an dieser Stelle gebührt auch der Übersetzterin Anne Braun ein Kompliment für gelungene Übersetzung in die deutsche Sprache. Die Autorin erzählt so spannend und doch so voller Poesie, dass man selbst als Erwachsener das Buch kaum noch aus der Hand legen mag. Dabei ist es Sharon Arms Doucet gelungen, eine greifbare und glaubwürdige Welt zu erschaffen, deren Beschreibung Kinder faszinieren dürfte - so fördert dieses Feuerwerk an Fantasie, das besonders durch sein Detailreichtum so lebendig wirkt, die Vorstellungskraft der Kinder. Ihre bildhaften, poetischen Beschreibungen wie ";Dort sah sie, wie in einem halb vergessenen Traum, ein Hausboot vor sich..."; oder "; ... und sang dazu mit einer Stimme, so weich und samtig wie Pralinen mit Pekannuss- Karamell-Füllung"; um nur einige der ";Schätze"; zu erwähnen, sind trotz ihrer unkonventionellen bildhaften Sprache durchaus kindgerecht (denn die hier angesprochenen Dinge spielen im Leben von allen Kindern eine Rolle) und sprechen die Emotionen, sowohl des Lesers als auch des lauschenden Kindes, direkt an.

Die Illustrationen von Anne Wilsdorf sind frech, lebendig und versprühen einen ganz eigenen, sehr sympathischen Charme. Lucy, immerzu als agiles Mädchen mit abstehenden blonden Zöpfen dargestellt, zeigt uns mit ihrem Ausdruck die ganze Geschichte hindurch, dass sie lebensfroh und zäh ist. So, wie sie ausschaut,würde sie noch nicht einmal im Traum ans Aufgeben denken. Die Aquarell- und Tuschezeichnungen entführen uns in die üppige und nasse Welt des Sumpflandes. Die dominierenden Farben sind grünlich bis bräundliche Farbtöne.

Die Krokodilsfamilie, allen voran Mama Kroko mit ihrer pink-rosanen Seerose auf dem Kopf, sind drollige, sympathische Geschöpfe, denen die Liebenswürdigkeit geradezu aus den Gesichtern spricht. Lucy ist in der übewiegend grünlich und braunen Umgebung passenderweise mit einem roten Kleidchen ausgestattet. So sind Mama Kroko und Lucy schnell zwischen dem Wasser und dem vorherrschenden Grün- und Brauntönen auszumachen.

Anne Willsdorf nimmt weitestgehend Abstand von allzu detailbeseitzten Illustrationen - sie legt viel mehr Wert auf viele kleine Situations- und Stimmungsdarstellungen. Einzig in der Umgebung des Hausbootes werden ihre Bilder ";voller"; und zeigen viele heimelige Details, die auch in uns eine gewisse Wohligkeit erzeugen. Dies macht Sinn: Denn das Leben unter den Krokodilen ist für Lucy karg - so ist es diese Kargheit und die gleichzeitige emotionale Nähe zu ihrer ";Adoptivfamilie";, die in den Illustrationen sehr stimmungsvoll wiedergegeben wird. Als Lucy sich mehr und mehr ihr Leben auf dem Hausboot zurückerobert, sehen wir auch mehr Details, die Farben und die Stimmung werden wärmer. Diese Nestwärme zeigt sich in vielen Details wie zum Beispiel an Lucys neuem, nicht mehr zerrissenen Kleid, das sie von nun an trägt oder an den vielen Haushaltsgegenständen, die zu einem zu Hause gehören.

Das Schlußbild zum Happy-End sprüht nur so vor Lebensfreude und Herzlichkeit - hier erscheinen alle Darsteller umso farbenfroher inmitten der Lampions, dem gelben, einladenden Licht, das aus dem Haus dringt und den vielen großen und kleinen Tieren, die fröhlich mitfeiern. Da entdecken wir beispielsweise die Frösche auf dem Seerosenblatt die mit weit geöffnetem Maul mitsingen oder die tanzenden Waschbären und Eulen auf dem Dach des Hauses und mittendrin lacht und singt Lucy aus vollem Halse und spielt das Akkordeon.

Fazit:

Es lohnt sich, auch einen schwierigen Weg von neuem zu gehen, wenn der alte nicht mehr weiterführt - und Lucy wird in der Geschichte ";Lucy rettet Mama Kroko"; für ihren Mut belohnt: Sie weiß nun, wer sie ist, nämlich jemand ganz besonderer. Kroko-Lucy eben. Sharon Arms Doucets Worte haben die Kraft, Empfindungen in jedermann zu wecken und mit ihnen jene Fantasie, die die Welt unserer Kinder so viel reicher macht. Ein wunderbares, spannendes und zugleich leichtes Buch über die schwierige und manchmal auch schmerzhafte Suche nach der eigenen Identität.

Stefanie Eckmann-Schmechta

Lucy rettet Mama Kroko

Sharon Arms Doucet, Oetinger

Lucy rettet Mama Kroko

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