Der weite Weg nach Hause

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Kinderbuch Couch
88%1001

Kinderbuch-Couch Rezension vonDez 2006

Idee

Die Geschichte um die ungewöhnliche Gemeinschaft überzeugt durch seine vielen Perspektivwechsel und Retrospektiven aus dem Leben der jeweiligen Protagonisten. Dadurch gewinnt die Geschichte an Tiefe und lässt den Spannungsbogen kontinuierlich steigen.

Text

Die warmherzige und lebendige Sprache vermittelt über den Tiefgang der Geschichte hinaus Humor und eine gewisse Leichtigkeit, so dass die Geschichte niemals anklagend oder bedrückend wirkt.

Als die dreizehnjährigen Zwillinge Florida und Dallas die kratzigen ";Ich-war-böse-Hemden"; ausziehen und sattdessen ihre beste Kleidung tragen sollen, ahnen die beiden bereits nichts Gutes. Bald schon finden sie sich im Büro ihres Heimleiters Mr. Trepid nebst Gattin wieder, die sie einem älteren Ehepaar vorstellen möchten. Sairy, so der Name der Frau, und Tiller, ihr Mann, möchten die Kinder zu einer großen Reise mitnehmen – nur dass die eine in den Dschungel nach Kangadoon reisen wird und der andere eine große Flussfahrt plant. Dallas´ lebendige Fantasie schlägt schon Purzelbäume während Florida die bösesten Vorahnungen umtreiben.

Dallas und Florida leben unter traurigen Bedingungen in dem heruntergekommenen Heim der Trepids. Die Zwillinge sind von allen Kindern schon am längsten dort und haben die Hoffnung auf eine nette Familie und ein schönes zu Hause längst aufgegeben. Zu viel mussten sie bei ihren bisherigen Pflegefamilien erleben, als dass sie sich noch Illusionen machen können. Während Dallas in seine Traumwelten flieht, verhärtet Florida innerlich immer mehr. Als der Junge und das Mädchen eines Tages von dem schrulligen Ehepaar Morey in das malerische Rubintal mitgenommen werden, machen sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, dass es auch gute Menschen unter den erwachsenen gibt.

Der verträumte, immer nach Abenteuern Ausschau haltende Dallas und die argwöhnische Florida können im weitläufigen Rubintal herumtollen und ihre neue Freiheit geniessen. Nachdem Dallas und Florida dennoch einen halbherzigen Fluchtversuch starten, der misslingt, macht das Ehepaar daraus kein großes Thema sondern interpretiert es als einen ";Test"; ihrer Ausrüstung. Dies wiederum bringt sie auf die Idee, ihre Reisen einmal probeweise in näherer Umgebung zu unternehmen. Sairy wandert mit Dallas vom Rubintal in die weitere Umgebung; Tiller und Florida unternehmen mit dem frisch überholten Boot einen ersten echten Ausflug auf die Flüsse.

Sairy, die Distanz zu ihrem Mann sucht, mit dem sie fast ihr ganzes Leben zusammen ist, um sich selbst wieder als Individuum zu erleben, begreift während der mühseligen und übereilt unternommen Wandertour, dass sie ihren Mann ebenso braucht wie er sie. Und sowohl Dallas als auch Florida vermissen einander – besonders Florida leidet unter der Trennung und befürchtet insgesheim, dass sie endgültig von ihrem geliebten Bruder getrennt werden soll. Dennoch: Dallas und Florida nähern sich mehr und mehr ihren erwachsenen Begleitern an. Dabei finden sie Gemeinsamkeiten, wobei Tiller und Florida eher die Pessimisten sind und Sairy und Dallas zu den Optimisten des Lebens gezählt werden können. Eine zarte Bindung wächst und die Kinder erzählen zum ersten Mal voneinander unabhängig ihre Odysee, die sie in den Pflegefamilien erlebt haben.

Doch während die ahnungslosen Reisenden unterwegs sind, führt der Heimleiter, Mr. Trepid, böses im Schilde. Er hat durch die arglosen Kinder von den ";Steinkonten"; im Rubintal erfahren, in denen Sairy und Tiller ihr Geld verstecken. Trepid beauftragt Mr. Z, einen zwielichtigen Mann, mit der Kartographierung des weitläufigen Grundstücks, bei dem er alle größeren Steinhaufen eintragen soll. Trepid will das Geld stehlen und mit seiner Frau ein neues Leben in Saus und Braus beginnen. Was den Leser zunächst das Schlimmste befürchten lässt, entpuppt sich jedoch als Falle für Trepid. Denn bei der dramatischen Rettungsaktion, bei der Florida und Tiller aus den reissenden Fluten geborgen werden, steht ihnen Mr. Z. überraschenderweise hilfreich zur Seite und sorgt sogar dafür, dass Trepid nicht das findet, was er sucht.

Die Geschichte um die ungewöhnliche Gemeinschaft überzeugt durch seine vielen Perspektivwechsel und Retrospektiven aus dem Leben der jeweiligen Protagonisten. So erfährt man auch, dass die Trepids versucht haben, die Zwillinge als ihre eigenen Kinder aufzuziehen. Doch ihnen fehlte das Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, Dallas und Florida gute Eltern zu sein und sahen sich bald mit der Situation überfordert. Wir erfahren aus der Perspektive des zwielichten Mr. Z, dass er herausgefunden hat, dass die Mutter der Zwillinge seine Ex-Frau war und er damit ihr Vater. Seine Intuition treibt ihn zu diesen genaueren Nachforschungen an, genauso wie sie ihn an die richtige Stelle am Fluss gelenkt hat. Die gleiche Intuition, die auch Dallas erfasst hat, als er spürte, dass seine Schwester in Gefahr ist.

Dabei erreicht der von Sharon Creech aufgebaute Spannungsbogen Qualitäten eines Krimis und sie weiß, ganz entgegen der daraus entstehenden Erwartungen, wirklich zu überraschen. Viele Hintergründe werden über den inneren Dialog der jeweiligen Hauptperson vermittelt, deren Erinnerungen durch die gegenwärtigen Geschehnisse wachgerufen werden. Abwechselnd mit den Dialogen unter den agierenden Personen, ergibt sich ein lebendiges, dichtes Netz, das den Leser immer tiefer in die Geschichte zieht und begreifen lässt, mit welchem ";emotionalen Gepäck"; die vier Reisenden unterwegs sind. Sharon Creechs warmherzige und lebendige Sprache vermittelt über den Tiefgang der Geschichte hinaus Humor und eine gewisse Leichtigkeit, so dass die Geschichte niemals anklagend oder bedrückend wirkt. Trotz der insgesamt sieben Handlungsstränge gelingt es ihr, eine in sich verwobene und dennoch sehr übersichtliche Geschichte zu erzählen. Zudem steigern die klassischen Perspektivwechsel, ähnlich wie ein Filmschnitt, die Spannung und damit natürlich das unwiderstehliche Bedürfnis, die Geschichte immer weiter zu verfolgen.

Dabei schildert die amerikanische Autorin auf geschickte Weise eine dichte Geschichte, dessen Deutung sie dem Leser überlässt. Sie weist auf vieles auf sehr kindgerechte Weise hin, lässt aber Wesentliches und damit Emotionales im Hintergrund mitschwingen, um es im späteren Verlauf der Geschichte noch einmal aufzugreifen. Ob und warum die vier zusammengehören, beantwortet sie nicht und so kann der Leser selbst herausfinden, welche Antwort sich hinter den vielen Andeutungen versteckt.

Im Verlauf der Geschichte ahnt der Leser jedoch bereits, dass Sairy und Tiller genau die richtigen ";Eltern"; für die beiden vom Leben benachteiligten Kinder sind. Aufgrund ihres Alters und ihrer Lebenserfahrung, bringen sie genau die richtige Portion an Besonnenheit und Klugheit mit, die die Kinder brauchen, um endlich wieder sicheren Boden unter den Füssen zu bekommen. Für die Kinder ist es ein wahrer Segen, denn sie können endlich die Verantwortung füreinander, für die sich noch viel zu jung sind, ablegen in dem Wissen, dass es jemanden gibt, der Erwachsen ist und sie Kind sein lässt. Für Sairy und Tiller schließt sich eine alte Wunde, denn sie haben nie über den schmerzlichen Prozess der Ablösung von ihren eigenen, erwachsenen Kindern gesprochen.

Doch das Wort ";Familie"; bleibt unausgesprochen, als würde dies den langsam wachsenden Prozess zerstören. Aber genau dieser Schwebezustand bringt die beiden Kinder wieder in unsichere Bahnen – zumal die leiblichen Kinder von Sairy und Tiller ganz und gar nicht für die neue, kleine Familie sind. Noch einmal machen sich die beiden Kinder auf den Weg, um noch rechtzeitig den Nachtzug nach nirgendwo zu bekommen.

Fazit:

";Der weite Weg nach Hause"; hält so manche Überraschung bereit, sei es im Hinblick auf seine Protagonisten als auch auf die Erwartungshaltung, die sich beim Lesen einstellen mag. Dabei nimmt der Leser unmerklich die Einstellung der Florida ein, da auch er mit dem Schlimmsten rechnet. Doch Sharon Creech zeigt ihren Lesern, dass es im Leben auch ganz anders kommen kann – und das in einem absolut positiven Sinne. Ein kluges Buch, denn es beschert uns durch seine gut erzählte Geschichte ein intensives und kurzweiliges Lese-Erlebnis und hat dabei aber noch das Zeug, bei Kindern und Eltern noch lange nachzuwirken.

Stefanie Eckmann-Schmechta


Der weite Weg nach Hause

Sharon Creech, Fischer Schatzinsel

Der weite Weg nach Hause

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