Nicht falsch, nur anders: Ein facettenreiches Sachbuch über Neurodivergenz
Seit einigen Jahren kommt Bewegung ins Thema Neurodivergenz. Galten ADHS und Autismus vor einigen Jahren noch als „Störung“ weniger Menschen, trifft man inzwischen im privaten wie öffentlichen Bereich auf immer mehr Menschen, die offen darüber sprechen, autistisch zu sein, ADHS, LRS oder auch Dyskalkulie zu haben, um nur die bekanntesten Formen der Neurodivergenz zu nennen. Oft hört man, bedingt durch die Zunahme der diagnostisch festgestellten „Fälle", es handele sich dabei bloß um eine Modeerscheinung und viele unterstellen Betroffenen gerne, für ihre Unpünktlichkeit, ihre Probleme mit Zahlen beziehungsweise Buchstaben oder andere Schwierigkeiten einfach nur eine faule Entschuldigung haben zu wollen, anstatt ihre Probleme aktiv anzugehen und sich einfach nur etwas mehr anzustrengen.
Was es jedoch wirklich bedeutet, als neurodivergenter Mensch in einer neurotypischen Welt zu leben, verstehen nur die wenigsten. Kein Wunder, dass viele Betroffene mit ihrem Leben struggeln, im Alltag, der Schule oder später im Berufsleben an ihre Grenzen stoßen, da ihre Bedürfnisse oft weit von der Norm abweichen und sie mit den dortigen Gegebenheiten und Anforderungen nicht zurechtkommen. In „Richtig anders – anders richtig“ gibt es neben einer Menge Hintergrundwissen auch viele Erfahrungsberichte von Betroffenen, sachliche Fakten und Tipps, wie mit den unterschiedlichen Problemen umgegangen werden kann und Stärken genutzt werden können.
Eine andere Sicht auf die Welt
Bevor Kathrin Köller in ihrem Buch auf die verschiedenen Neurotypen eingeht, gibt es im ersten Kapitel erst einmal eine grobe Übersicht, was alles zum „Neurodiversum“ hinzugehört. Immer häufiger stößt man im Alltag auf Begriffe wie „Neurodiversität“ beziehungsweise „neurodivers“, „neurodivergent“ beziehungsweise „Neurodivergenz“ oder auch „neurotypisch“, „Neurotyp“ oder „Neuronormativ“. Damit man nicht völlig durcheinander kommt und den Überblick behält, gibt es zu jedem Begriff eine kurze Definition, in der die jeweilige Bedeutung klar und das Wort zu seinen ähnlich klingenden Nachbarn abgegrenzt wird. Anschließend gibt es eine kurze Übersicht, was alles unter dem großen Feld Neurodiversität zusammenkommt, denn anders als die meisten vermuten, fallen unter diesen Bereich nicht nur ADHS, Autismus, LRS und Dyskalkulie, auch Synästhesie, Dyspraxie, Bipolarität und Hochsensibilität können hinzugezählt werden. Weite Definitionen ordnen zudem Epilepsie, das Down-Syndrom oder auch Schizophrenie hinzu, worauf jedoch im Buch nicht näher eingegangen wird. Dass dringend Handlungsbedarf besteht und sich die Gesellschaft mehr auf neurodivergente Menschen einstellen sollte, wird deutlich, wenn man ihren Anteil in der Bevölkerung betrachtet. Je nach Schätzung lassen sich 15 bis 30 Prozent der Menschen diesem Bereich zuordnen und man kann sicher sein, dass jeder jemanden kennt, dessen Gehirn etwas anders funktioniert. Also ein Thema, von dem niemand sagen kann, er hat damit nichts zu tun.
Im nächsten Kapitel dreht sich alles um das Thema ADHS. Beginnend mit den „Basics“, in denen Kathrin Köller kurz auf die Merkmale dieses Neurotypen eingeht, geht es anschließend weiter mit den drei unterschiedlichen Präsentationsformen von ADHS, einigen Beispielen für Symptome, guten Gründen für eine Diagnostik und Strategien gegen Stress. Im nächsten Abschnitt stehen LRS und Dyskalkulie im Mittelpunkt, wobei sowohl Folgen für Schule als auch für den Alltag näher betrachtet werden. Anschauliche Beispiele und Interviews mit Betroffenen zeigen, dass sich beide Störungen nicht einfach „wegüben“ lassen, sondern viel mehr dahinter steckt.
Spricht man über Neurodivergenz, darf natürlich auch Autismus nicht fehlen. Wie breit das Autismus-Spektrum ist, wird dabei wahrscheinlich viele überraschen, denn das Symptomfeld zwischen verschiedenen Autisten kann sehr weit auseinandergehen und hat oft wenig mit der landläufigen Vorstellung eines zurückgezogenen Supernerds zu tun, der anderen nicht in die Augen schauen kann. Kathrin Köller stellt in diesem Kapitel verschiedene Autist*innen in Form von Interviews vor, geht auf Barrieren in der Schule ein und thematisiert typische Themen wie Spezialinteressen, Sinneswahrnehmung, Kommunikation, Regeln und Routinen.
Zum Abschluss folgt noch ein Kapitel mit dem Titel „Mental Health“, ein Thema, welchem gerade im Bereich Neurodivergenz eine besondere Bedeutung zukommt. Sich frühzeitig Hilfe suchen ist besonders wichtig, da durch den hohen Anpassungsdruck und die häufig aufkommenden Selbstzweifel nicht selten Komorbiditäten entstehen. Das Teilnehmen an Selbsthilfegruppen, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen, um sich nicht alleine zu fühlen und zu sehen, es geht auch noch anderen so, kann da zusätzlich helfen, wie auch Interviews mit Betroffenen zeigen.
Für mehr Selbstkompetenz und gegen Vorurteile
Bei „Richtig anders – anders richtig“ handelt es sich um ein modern gestaltetes Sachbuch, das sich an Kinder und Jugendliche ab etwa 11 Jahren richtet. In fünf langen Kapiteln geht es anschaulich um das Thema Neurodivergenz, wobei zunächst einmal geklärt wird, was dieser Begriff genau bedeutet. Anschließend werden unterschiedliche Neurotypen näher betrachtet und es wird beschrieben, mit welchen Problemen sie im Alltag häufig konfrontiert werden, aber auch welche Stärken in ihrer anderen Sicht und Wahrnehmung liegen können. Zu jedem Thema gibt es Berichte von oder über Betroffene, wobei sie entweder in Form von Interviews selbst zu Wort kommen oder aber ihre Geschichte erzählt wird, wie etwa im Porträt der Autistin Temple Grandin, die von Ärzten mit drei Jahren den Stempel „infantile Schizophrenie“ bekam und schon in eine geschlossene Anstalt abgeschoben werden sollte, dank ihrer Mutter jedoch die richtige Förderung bekam und schließlich als Dr. Temple Grandin zu einer angesehenen Professorin für Tierwissenschaften wurde und nebenbei die Autismusforschung revolutionierte.
Durch die vielen Beispiele können sich Betroffene einerseits wiedererkennen und fühlen sich mit ihren Besonderheiten nicht mehr so allein und falsch, andererseits helfen sie neurotypischen Menschen, sich in die Lage von ADHSlern, Autisten und Menschen mit Dyskalkulie oder LRS hineinzuversetzen, Verständnis auf- und Vorurteile abzubauen.
Sprachlich ist das Buch auf Augenhöhe der Jugendlichen. Viele Anglizismen, Abwechslung zwischen den Textarten und kurze Abschnitte sorgen dafür, dass das Thema alles andere als trocken und langweilig rüberkommt und auf der Höhe der Zeit ist. Gerade da die Forschung und die Präsenz des Themas im Alltag in den letzten Jahren große Sprünge gemacht hat, ist dies besonders wichtig. Schloss beispielsweise eine Autismus-Diagnose bis 2013 ein gleichzeitiges Vorhandensein von ADHS noch aus und umgekehrt ebenso , weiß man inzwischen, dass etwa 50% der Autisten gleichzeitig ADHS haben, umgekehrt vermutet man um die 40%, was sowohl in Behandlung als auch Diagnostik einen großen Unterschied macht!
Was im Buch etwas fehlt ist der Bereich Hochbegabung, der eigentlich auch mit zur Neurodivergenz gezählt wird und nicht selten gemeinsam mit einer der anderen Form auftritt. Da gerade in diesem Fall viele Verhaltensweisen oft gut kompensiert werden können und sich die Probleme anders gestalten, wäre ein erwähnen wünschenswert gewesen, um auf das Thema in diesem Zusammenhang aufmerksam zu machen.
Gestaltet wurde das Buch von Irmela Schautz, deren Illustrationen während des Lesens für Abwechslung sorgen. Viele kleine Details ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und veranschaulichen gut, wie sich Betroffene oft fühlen. Zwei kämpfende Schwestern stehen beispielsweise für den ständigen inneren Konflikt der oft gegensätzlichen inneren Stimmen, die bei AuDHS (=das gleichzeitige Vorhandensein von ADHS und Autismus) oft vorherrschen oder das Bild einer Jugendlichen in einem Einkaufswagen umgeben von Grammangaben, Preisen, Prozenten und Mengenangaben zeigt, wie sich Menschen mit Dyskalkulie oft in ganz alltäglichen Situationen wie während eines Einkaufs fühlen können.
Fazit
Ein gelungenes Buch, das Betroffenen Mut macht und ihnen zeigt, dass sie mit ihrem „anders sein“ nicht alleine sind und es vielen Menschen so geht wie ihnen. Eine tolle und moderne Gestaltung mit leicht verständlichen Texten und passenden Illustrationen sorgt für Abwechslung während des Lesens.

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