Das nennt man Glück
- Gerstenberg
- Erschienen: Juni 2025
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Illustrationen von Meike Töpperwien; Hardcover, 144 Seiten
ISBN: 9783836963121


Dieses Kinderbuch verleiht auf herzerwärmende Weise denjenigen eine Stimme, die in der Masse nicht gehört werden
Familie Mirza sucht eine größere Wohnung - in Hamburg, mit fünf Kindern und nicht allzu teuer. Keine leichte Aufgabe, aber auf die Dauer ist ein Kinderzimmer für alle Geschwister keine Lösung. Und der Kleinste, Abdi, hustet wegen des Schimmels immer mehr. Dass die Wohnungssuche allerdings so schwer werden wird, hätten sie nicht gedacht. Also nehmen die neunjährige Janan und ihre vier Brüder die Sache selbst in die Hand. Irgendwo müssen sie schließlich wohnen!
Sie verteilen Aushänge in der ganzen Stadt, fragen spontan die Bauarbeiter auf einer Baustelle (schließlich wohnt hier doch noch keiner) und arrangieren auf eigene Faust Besichtigungstermine für die gesamte Familie. Leider ist das Glück dabei nicht immer auf ihrer Seite. Meistens werden sie von den Maklerinnen und Maklern schon bei der Begrüßung skeptisch beäugt oder sie schaffen es nicht pünktlich zum Termin, weil der Alltag einer siebenköpfigen Familie einfach ganz schön wuselig ist.
Zeit für einen Perspektivwechsel
Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Franz nimmt in diesem warmherzigen Kinderroman das Thema Wohnungsknappheit und Gerechtigkeit unter die Lupe. Die Diskussion über fehlenden bezahlbaren Wohnraum ist leider keine unbekannte, doch selten kommen die zu Wort, die es wirklich betrifft. Noch dazu die Kinder, deren Aufwachsen, Entwicklung und Alltag dadurch erheblich beeinflusst werden.
Der kindliche Optimismus der Mirza-Geschwister ist so wunderbar ehrlich, hoffnungsvoll und berührend. Erzählt wird aus der Perspektive von Janan, wenn auch nicht in der Ich-Form. Es fühlt sich an, als würde man in ihre Gedankenwelt hineingezogen werden: Neugier, Fantasie, Optimismus, unerschöpfliche Ideen - alles ist möglich. Humor und Leichtigkeit schwingen in dieser Geschichte immer mit. Es gibt Stellen, an denen muss man einfach laut lachen. Vor allem Baba, der aufgrund seiner Fahrangst schon Stunden vor der nächsten Autofahrt Schweißausbrüche bekommt, kann man einfach nur ins Herz schließen.
Gleichzeitig gibt es aber auch Raum für ernste Themen, die kindgerecht aufgearbeitet werden. So erzählt Janan von der elterlichen Sehnsucht nach ihrer irakischen Heimat. Ihr Baba ist in einer kleinen Stadt am Rande des Sindschargebirges aufgewachsen, wo seine Geschwister noch immer leben. Als Familie Mirza die Nachricht bekommt, dass sein Neffe Diyar von einer Landmine getroffen wurde und dabei ein Bein verloren hat, würde Baba am liebsten direkt dorthin fliegen. Für die Kinder ist die Situation nur schwer zu begreifen, da sie Diyar und den Rest der Familie nicht wirklich kennen. Doch sie verstehen, wie ernst es sein muss. Kurzerhand organisieren sie einen Flohmarkt, um Geld für eine Beinprothese zu sammeln.
Insbesondere dieser kindliche Sinn für Gerechtigkeit lässt auch die Erwachsenen an vielen Stellen innehalten. Perspektivwechsel sind eine von Janans vielen Stärken. Sie kann sich in andere Menschen reinversetzen, hat ein hohes Maß an Empathie: So überlegt sie beispielsweise an einer Bushaltestelle, ob sie dem Obdachlosen nicht auch von der freien Wohnung erzählen soll, da er noch dringender als sie eine Bleibe braucht. Im Hintergrund schwingt beim Lesen immer wieder die Frage mit: Warum gehen wir als Gesellschaft nicht auch so fürsorglich und respektvoll miteinander um? Viel zu selten verlassen wir die eigene Blase und legen die Scheuklappen ab. „Das nennt man Glück“ ist in vielerlei Hinsicht ein starkes Plädoyer für mehr gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit und Zusammenhalt.
„Und überhaupt: Jetzt sind wir mal dran. Wir suchen nämlich schon ewig.“
Flankiert wird der lockere Schreibstil von Meike Töpperwiens lustigen schwarz-weiß Illustrationen, deren markantestes Merkmal wohl die betont großen Augen sind. Dadurch entsteht ein einmaliges Mimikspiel, das, gepaart mit einem Sinn für skurrile, witzige, aber auch emotionale Momente, entscheidende Szenen wunderbar einfängt. Die Zeichnungen passen eins zu eins zum Text. Für leseschwächere, achtjährige Kinder könnte das Schriftbild eventuell noch zu klein und dicht sein. Jedoch eignet sich das Buch, gerade auch mit Blick auf die Themen, ebenfalls zum gemeinsamen Lesen.
Diese Geschichte steht exemplarisch für die Situation so vieler Kinder und Familien, die auf engstem Raum miteinander leben, da es nicht genügend Wohnraum für alle gibt. Sie schärft den Blick für das Wesentliche, vermittelt Wertschätzung und Dankbarkeit, indem sie zeigt, dass nicht alles selbstverständlich ist. Nicht jedes Kind hat ein eigenes Zimmer oder eine unüberblickbare Masse an Spielzeug. Die Szenen, in denen Janan ohne ihre kaputte Brille nichts sehen kann, sorgen zwar für viele humorvolle Momente. Doch ein bitterer Beigeschmack bleibt: Es ist schlichtweg nicht möglich, direkt zum nächsten Optiker zu gehen und eine neue zu kaufen.
Natürlich herrscht auch in dieser Familie nicht immer Jubel, Trubel, Heiterkeit. Zwischen den Geschwistern wird es regelmäßig laut, sie streiten oder gehen einander auf die Nerven. Doch eines ist immer gewiss: Sie halten zusammen und lassen sich nicht unterkriegen. Nicht vom Schimmel in der alten Wohnung, Babas abendlichen Arbeitszeiten als Koch oder den vielen Rückschlägen bei der Wohnungssuche. Die Mirzas halten zusammen - komme, was wolle.
Fazit
Ein absolutes Jahreshighlight, das ich Kindern und Erwachsenen gleichermaßen ans Herz lege.

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