Garmans Sommer

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Kinderbuch Couch
93%1001

Kinderbuch-Couch Rezension vonJul 2009

Idee

Der nordische Autor traut sich ernsthafte Themen anzufassen und schafft das auf eine wunderbar direkte und trotzdem leichte Art und Weise ohne betroffen zu machen.

Bilder

Eigens entwickelter neuer (Retro-)Stil, bestehend aus Collagen der unterschiedlichsten Stilrichtungen kombiniert mit fotorealistischen Elementen.

Text

Die kurzen, teilweise philosophischen Textpassagen sind für den optimalen Gesamteindruck unerlässlich und ergänzen die ungewöhnliche Bildsprache bestens.

[ab 5 Jahren]

Ausgezeichnet mit dem Kinderbuch-Couch-Star*. Was auch immer Sie beim ersten Blick auf diesen etwas unglücklich dreinblickenden Jungen mit Schwimmflügeln auch denken mögen - eines möchte ich gerne vorweg nehmen: "Garmans Sommer" ist ein sensibles Buch. Ganz aus aus der Perspektive des sechsjährigen Garman erzählt, zeigt es die Unsicherheit des Jungen vor dem neuen Lebensabschnitt - der Einschulung. Überraschend humorvoll und einfühlsam zeigt Stian Hole, dass auch ältere Menschen noch Angst vor Unbekanntem haben.

Die letzten warmen Spätsommertage sind angebrochen und während Garman mit geschlossenen Augen den zirpenden Grillen lauscht, fällt ihm ein, dass er bald in die Schule kommt. Ein mulmiges Gefühl begleitet ihn deswegen. Zumal er noch keinen Wackelzahn hat und neidisch auf die Nachbarszwillinge ist, da diese nicht nur bereits vier Zähne verloren haben sondern auch schon komplizierte Wörter buchstabieren können.

Seine drei Großtanten, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, sind zu ihrem alljährlichen Sommerbesuch eingetroffen. Neugierig beginnt er die alten Frauen, die Falten wie Baumringe haben, zu beobachten, wundert sich über deren komplizierte Ausdrucksweise („Du hast wahrhaftig einen grünen Daumen") und ärgert sich über die sechste selbst gestrickte Pudelmütze in Folge. Während er akribisch den Sitz seiner Schneidezähne prüft, schleicht er sich leise an die gebisslosen, schlafenden Tanten heran und fühlt die dünne, papierartige Haut an Tante Borghilds Händen.

Unsicher, ob nicht doch die von Tante Augusta erwähnten Schmetterlinge im Bauch seinen Zustand verursachen, gesteht er frei heraus, dass er einfach Angst vor der Schule hat. Diese Aussage Garmans löst eine Flut von Geständnissen aus. Tante Ruth hat Angst, dass sie zukünftig zum Gehen einen Rollator benötigen könnte; außerdem fürchtet sie sich vor der eisigen Kälte des Winters. Das wundert Garman, der gerne Iglus baut und heißen Kakao trinkt. Tante Borghild hat Angst zu sterben und Garman zurückzulassen, obwohl sie sich den Flug zum großen Himmelsgarten traumhaft vorstellt. Garman weiß bereits, dass man davor noch zu Erde werden muss, wie der tote Spatz, den er bei den Regenwürmern begraben hat. Tante Augusta hat vergessen wovor sie Angst haben könnte. "Wer alles vergisst, hat vor nichts mehr Angst" denkt Garman. Sein Papa hat Lampenfieber vor jedem Auftritt und er hat Angst davor, Frau und Kind wegen seiner Konzertreisen zurücklassen zu müssen. Sogar seine Mama fürchtet sich vor dem Zahnarzt und vor den Gefahren auf Garmans Schulweg, obwohl sie diesen den ganzen Sommer geübt haben.

Als die alten Tanten abreisen wird Garman deutlich, dass der Sommer unwiederbringlich vorbei ist. Vor dem Schlafengehen überprüft er noch einmal, ob einer seiner Zähne wackelt und wieder spürt er das mulmige Gefühl. "Es sind noch dreizehn Stunden bis die Schule anfängt".

Erneut hat es ein unkonventioneller „Nord-Import" geschafft richtig zu beeindrucken. Das liegt an der Leichtigkeit mit der der norwegische Autor und Grafik-Designer Stian Hole Themen wie Vergänglichkeit, Tod und Kindheit behandelt. Gleichzeitig nimmt er die undefinierbare Angst vor dem Unbekannten sehr ernst und gibt dem kleinen Garman den Raum zu seiner Angst zu stehen. Und siehe da: Garman macht die beruhigende Erfahrung, dass sich jeder fürchtet, auch wenn die Gründe für den Sechsjährigen häufig noch nicht nachvollziehbar sind.

Vor allem liegt es aber an den kunstvollen Bildcollagen Holes, dass dieses Bilderbuch den Leser so beeindruckt und auch häufig schmunzeln lässt. Er ermöglicht mit stimmungsvoller Farbgestaltung und Komposition, dass man vollends in das Spätsommergefühl eintaucht. Dazu kombiniert er digital bearbeitete Fotos mit Zeichnungen, die einem alten, naturwissenschaftlich-angehauchten Gartenbuch zu entstammen scheinen, mischt dies mit den unterschiedlichsten Texturen (wie z.B. Tapetenmustern aus den 50ern), kopiert andere Künstler (z.B. Blossfeldt) und stellt die einzelnen Komponenten in zum Teil ungewöhnlichen Größenverhältnissen und extremen Close-ups gegenüber. Auf den ersten Blick empfindet man die zu groß geratenen Köpfe der Personen als ungewöhnlich. Eine Technik, die man aus Comics kennt und Personen hauptsächlich auf deren Mimik reduziert.

Durch diesen Stilmix ist eine ganz eigene Bildspache entstanden, die ein wenig an den z.Zt. so beliebten Retro-Stil erinnert und so bisher noch in keinem anderen Kinderbuch zu finden ist. Durch den integrierten Fotorealismus ist dann jede Falte tief und furchig, die Gebisse der Alten im Wasserglas eklig und das Röntgenbild von Garmans Bauch mit den darin umherschwirrenden Schmetterlingen ein wenig gruselig. Aber all diese Dinge sind aus dem Leben gegriffene Sichtweisen eines Sechsjährigen und da sie in keinem anderen Buch so direkt gezeigt werden, tatsächlich spannend.

Der erste, ein wenig zurückweisende Eindruck den dieses Buch vermittelt, täuscht also. Die ausdrucksstarke Bildsprache kombiniert Hole mit teilweise philosophisch anmutenden Texten, die das Gesamtbild abrunden und seine Ästhetik hervorheben. Obwohl teilweise philosophisch („Die Tanten reisen ab. Sie haben alle Zeit der Welt aber keine zu verlieren") ist der Text von der anvisierten Altersgruppe jederzeit gut nachvollziehbar und gleichzeitig auch für Erwachsene angenehm. Jeder von uns kennt Garmans Sorgen und Ängste. Kinder fühlen sich über seine Betrachtungen direkt angesprochen - die Intensität der Bilder und die Aufrichtigkeit, mit der Hole die Gefühle und Gedanken des Sechsjährigen schildert, berührt nicht nur Kinderherzen. Kein Wunder also, dass man es immer wieder in die Hand nehmen und (vor-)lesen muss.

„Garmans Sommer" endet nicht versöhnlich sondern realistisch. Sämtliche Nachforschungen und selbst die Gewissheit, dass jedermann mit Ängsten zu kämpfen hat, tröstet ein wenig, nimmt ihm seine eigene Angst aber nicht. Man fiebert ein wenig mit Garman mit, der mit herabgezogenen Schultern, scheinbar gedankenverloren, das erste fallende Blatt des Herbstes beobachtet. Doch weiß man ganz sicher, dass dieser neugierige und kluge Junge alle neuen Herausforderungen bewältigen wird.

Kinder im schulfähigen Alter werden sich spielend leicht mit Garman identifizieren und auf diese Weise die Gewissheit erhalten, dass sie mit diesen undefinierbaren Ängsten nicht allein sind. Garmans Sommer bietet also einen wunderbaren Einstieg, um mit den eigenen Kindern über deren Ängste und Zweifel zu reden.

Dieses Buch wurde zu Recht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und es überrascht nicht, dass es in 12 Ländern herausgebracht wurde.

Fazit:

Ein starkes Buch zum Thema Angst, das es schafft, mit kindlicher Unbefangenheit zu schildern ohne betroffen zu machen. Die ungewöhnlichen, wunderschönen Collagen stecken voller phantastischer Elemente und bleiben doch die aus dem Leben gegriffene Eindrücke eines Sechsjährigen. Je öfter man dieses Buch zur Hand nimmt, desto mehr wird man es mögen.

Gabriele Jansen

 

Garmans Sommer

Stian Hole, Hanser

Garmans Sommer

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