Matilda - Das Musical

Film-Kritik von Yannic Niehr (12.2022)

Jedes Kind ist ein Geschenk – nur die Wurmwalds sehen das anders: Die Mutter ist sowieso nur mit sich selbst beschäftigt, der Vater hätte lieber einen Jungen gehabt. So entgeht ihnen, dass ihre kleine Tochter Matilda ein wahres Genie ist. In punkto Intelligenz steckt sie ihre Eltern locker in die Tasche, nur verstanden wird sie von ihnen nicht. Matildas einzige Vertraute ist Mrs. Phelps, die Inhaberin einer kleinen mobilen Bibliothek. Wenn sie dort nicht gerade einen Klassiker der Literatur nach dem anderen verschlingt, flieht sie sich in fantastische Geschichten, die sie der gebannt zuhörenden Mrs. Phelps erzählt.

Matildas Klugheit und Widerstandskraft werden jedoch auf eine harte Probe gestellt, als ihre Eltern sie (nachdem sie es zuvor schlicht vergessen hatten) in der Schule anmelden: Die kinderhassende Rektorin Agatha Knüppelkuh führt ein strenges Regiment und bestraft ihre Schützlinge gerne mit martialischen Methoden. Nur Matildas Klassenlehrerin, die scheue, aber einfühlsame Ms. Honig, erkennt schnell das in dem Mädchen schlummernde Potenzial. Sie selbst hütet ein Geheimnis über ihre eigene unschöne Kindheit, und findet so eine Vertrauensbasis, um sich mit ihr anzufreunden.

Abgesehen davon, dass Matilda nicht auf den Kopf gefallen ist, entdeckt sie aber auch noch eine ganz besondere Gabe in sich: Telekinese. Sie kann also Gegenstände allein kraft ihrer Gedanken bewegen! Gewappnet mit Mut, Gewitztheit und ihrer übernatürlichen Fähigkeit wagt Matilda, den Kampf gegen die Knüppelkuh aufzunehmen – und ihren Mitschülern zu zeigen, dass man auch, wenn man klein ist, viel bewegen kann …

„Just because you find that life's not fair, it doesn't mean that you just have to grin and bear it!
Nobody but me is gonna change my story. Sometimes you have to be a little bit naughty“

Der berühmte Schriftsteller Roald Dahl (dessen Lebensgeschichte selbst Stoff für interessante Romane bieten würde) hat einige Klassiker verfasst, die aus der Kinderliteratur nicht mehr wegzudenken sind. Neben Charlie und die Schokoladenfabrik zählt Matilda aus dem Jahr 1988 sicher zu seinen beliebtesten Werken. Wie viele seiner Geschichten zeichnet auch diese sich durch Ideenreichtum und schrägen Humor, aber auch eine kleine Prise (kindgerechten) Ekel und Horror aus. Vielen dürfte die Geschichte vor allem durch die Verfilmung von 1996 mit Mara Wilson in der Hauptrolle vertraut sein. In der heutigen Zeit verwundert es beinahe, dass es bis 2013 gedauert hat, bis der Stoff den Weg auf die große Musicalbühne fand. Für die Musik war der Allround-Künstler Tim Minchin verantwortlich, für den die Show eines seiner bis dahin größten Projekte darstellte. Das Dialogbuch verfasste Dennis Kelly, während Matthew Warchus bei der Originalproduktion Regie führte. Dasselbe Kreativteam steckte sein Herzblut (inmitten von Corona-Höchstzeiten) auch in die lange geplante Verfilmung, die nun am 1. Weihnachtsfeiertag 2022 bei Netflix Deutschland gestartet ist.

„We are revolting children living in revolting times ... We sing revolting songs using revolting rhymes!“

Die Geschichte ist (anders als im Film aus den 90ern) nun fest in Großbritannien verankert und orientiert sich nah an der Bühnenvorlage, die wiederum vieles aus dem Buch aufgreift, was in der ersten Verfilmung verlorengegangen ist. Gleichzeitig handelt es sich aber nicht um eine bloße Kopie; so ist zum Beispiel Matildas Geschichte über die tragische Romanze einer Star-Akrobatin mit einem Entfesselungskünstler, mit welcher sie verarbeitet, was um sie herum geschieht, neu, und es offenbaren sich erst spät Parallelen zu bekannteren Aspekten der Story.

Optisch wird das Musical gut eingefangen, aber man nutzt auch die erweiterten Möglichkeiten des Mediums Film, um die Wechsel zwischen fast dreckig-düsterem Grusel für Knüppelkuh, abgeschmackter Schmierigkeit für Matildas Eltern, subtiler Wärme für Ms. Honig und Freude versprühender Farbe für Matildas Fantasien auszubalancieren. Manches gerät zu übertrieben, z.B. im überraschend CGI-lastigen Finale; allerdings passt das zu Roald Dahls Stil.

„When I grow up, I will be smart enough to answer all the questions that you need to know the answers to before you're grown up“

Musical-Verfilmungen sind selten einfach, da verschiedenste Stimmungen unter einen Hut gebracht und stets sorgfältig auf den Rhythmus geachtet werden muss. Das Stück wird für die Filmfassung angenehm aufs Wesentliche reduziert, allerdings werden die Songs nicht immer so eingesetzt, dass sie Handlung oder Figuren voranbringen, sondern wirken gelegentlich wie ein Anhängsel (was ihrer Qualität nicht gerecht wird). Der sehr eigene Zauber der Story wurde in der ersten Verfilmung besser rübergebracht. Doch auch wenn Matilda – Das Musical manchmal holpert, sorgen Regieführung, Drehbuch und Schnitt dafür, dass die Themen der Geschichte mit ganz eigenem Charakter auf den Bildschirm gebracht werden.

Tim Minchin bedient sich für die Musik einem Schuss Lloyd Webber, die Kinderchoräle erinnern auch ein wenig an den Klassiker Oliver! Seine wortspielreichen Texte sind aber deutlich dichter und gehen fast in Richtung Sondheim. Nicht jeder Song wird sich sofort in die Ohrmuschel graben, doch die meisten von ihnen machen schnell klar, warum das Musical von Kritik und Publikum so hochgelobt wurde.

Vor allem sehenswert ist jedoch die Besetzung der Hauptrollen, die diese Songs interpretieren darf: Die irische Kinderdarstellerin Alisha Weir feiert mit gerade einmal 13 Jahren ihren großen Durchbruch als die liebenswerte Titelheldin. Ihre Matilda ist manchmal eine Spur zu Ernst, aber ihre Belesenheit, ihre Zähheit und ihren Gerechtigkeitssinn kauft man ihr absolut ab. Ihr erstes großes Solo Naughty ist ein schmissiger und mitreißend vorgetragener Aufruf, sich nicht unterkriegen zu lassen und seinem Schicksal durch eigene Tatkraft einen Schubs in die „richtige“ Richtung zu geben. Lashana Lynch, die zuletzt im MCU unterwegs war, überzeugt als freundliche Ms. Honig und punktet mit einer überraschend starken Gesangsperformance. Die britische Schauspiel-Größe Emma Thompson, u.a. bekannt als zauberhafte Nanny McPhee, darf erneut ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen und mimt die monströse Knüppelkuh (die in der Bühnenversion des Musicals immer von einem Mann verkörpert wird, um ihr bullig-groteskes Auftreten zu unterstreichen) als uniformierten, humorlosen Blockwart, die ihr fragiles Ego an ihren einstigen Olympiasieg beim Hammerwerfen klammert und von einer Welt ohne Kinder träumt. Sie kommt so zwar nicht ganz an die manische Energie von Pam Ferris in der Vorverfilmung heran, schafft aber trotzdem eine überzeugende, unterhaltsame Schurkin und landet mit ihrem großen Showstopper The Smell of Rebellion, der innerhalb von 5 Minuten durch verschiedenste Musikstile wandert,einen Volltreffer.

Vor allem aber ist das unverschämt talentierte Kinderensemble zu loben. Die knuffigen britischen Schuluniformen unterstreichen die kraftvollen, präzisen Choreographien, und die Songs bedienen sich bei Rock bis Rap. Der School Song dürfte wohl die bislang cleverste Variation des Alphabets darstellen, Revolting Children haut einen mit seiner Power fast aus den Socken, und eines der Highlights ist sicherlich When I grow up, eine raffiniert komponierte, gefühlvolle Ode an das Erwachsenwerden.

Fazit

Matilda – The Musical funktioniert nicht durchweg, doch sind die einzelnen Elemente so gut, dass das dem Spaß beim Schauen keinen Abbruch tut. Die Gegenüberstellung einer tyrannischen Erwachsenenwelt, die ständig ihre eigenen Regeln neu erfindet, damit man ja nicht gegen sie ankommen kann, und eines ganz besonderen Mädchens, das sich dank Gerechtigkeits- und Gemeinschaftssinn zu helfen weiß, zaubert (spätestens beim Happy End mit neuem Song) sicher ein Lächeln in jedes Gesicht und ist auch für Neulinge zu empfehlen, die die Geschichte noch nicht kennen – und das schleunigst ändern sollten!

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Bilder: © Dan Smith / Netflix

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