Der Wolf

Von der Bestie zum Kuscheltier

Und wie es sich für ein Märchen gehört, beginnen wir mit: Es war einmal.

Es war einmal ein Deutschland, in dem es keine Wildnis mehr gab und kaum noch wilde Tiere. Ein Sieg der Zivilisation über die ungezähmte Natur, so dachte man lange, oder halt der Preis für eine ordentliche, gut nutzbare, übersichtliche Kulturlandschaft. Eines Tages änderten sich die Zeiten: Die Menschen erkannten, dass in der Ökologie alles mit allem zusammenhängt. Naturschutz und Artenvielfalt wurden wichtig, nach und nach kamen mehr und mehr Tiere zurück: Fischotter, Wisente und Wildkatzen, Luchse, Uhus und Kolkraben. Manche von alleine, manche mit Hilfe von Ansiedlungsprogrammen, manche, wie Elche oder Bären, nur als Besucher. Nicht immer ist alles eitel Sonnenschein – es gibt Konflikte zwischen Waldbauern und Bibern, zwischen Anglern und Kormoranen, bei Feldhamstern und großen Bauvorhaben und mit dem Waschbären als allesfressendem Neubürger generell.

Aber alles in allem mögen die Menschen die neue Wildnis. Galt die Ausrottung und Vertreibung vieler einheimischer Tiere einst als Sieg der Zivilisation, ist es jetzt umgekehrt. Dass die Tiere sich hier wieder wohl fühlen, zeigt, dass die Natur noch lebt und wieder funktioniert. Auch das Image der wiederkommenden Tiere hat sich vielfach geändert: vom verhassten Schädling zu neuen Lieblingen.

Wieso die meisten Bücher nach wie vor Märchen erzählen über den Wolf und wie man all die Geschichten richtig liest.

Besonders deutlich ist dieser Wandel bei einem bestimmten Tier. Bei dem auch gleichzeitig alles ein bisschen anders ist. Genau, das ist der Wolf. Der Wolf bewegt die Gemüter, könnte man sagen, in jede Richtung. Und das war schon immer so, im Grunde. Wölfe sind einfach etwas Besonderes. Warum, lässt sich nur vermuten. Vielleicht, weil sie sehr anpassungsfähig sind und weltweit in nahezu jedem Lebensraum vorkommen. Anders als zum Beispiel Luchse, vom Kaliber her ähnliche Raubtiere, aber wenig verbreitet. Der Wolf dagegen wurde in vielen Kulturen verehrt, als Vorbild an Ausdauer und Geschick bei der Jagd, als Beschützer und Gott. Eine Wölfin wurde zur Pflegemutter der Gründer Roms, Romulus und Remus; ein Wolf ist das Symbol des römischen Kriegsgottes. Auch die Germanen verehrten den Wolf, Namen wie Wolfgang, Rudolf, Ulf oder Wulfram zeigen das bis heute.

Als die Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern wurden, kamen sich Wolf und Mensch mehr und mehr ins Gehege. Ganz schlimm wurde es ab dem Mittelalter:  Die Wälder waren vielfach abgeholzt, die Wildbestände überjagt; die Wölfe, ausgehungert und nicht zimperlich, wenn es darum geht, für die Ihren zu sorgen, kamen bis in die Städte und Dörfer, in denen oft genug auch Not und Elend herrschte.  Werwolf- und Hexen-Aberglauben zur Zeit der Inquisition taten ihr Übriges. Und aus dem verehrten Tier war das heimtückische, verschlagene, gierige, triebgesteuerte, gelbäugige Monster geworden, dass die Brüder Grimm und andere Autoren in ihren Märchen beschreiben.

Leichte Sprache ist fast ein eigenes System wie Blindenschrift oder das Gebärden.

Gelernt haben sie es alle mal,  80 Prozent der 6 Millionen haben einen Schulabschluss. Sie alle sind mal als Erstklässler gestartet und irgendwo steckengeblieben in ihren Lesekompetenzen, haben schlechte Zensuren kassiert und versiert gelernt, zu verbergen, wie schlecht sie tatsächlich lesen können; es vielleicht durch mündliche Leistungen ausgeglichen, manche sind durch eine wohlwollende Benotung irgendwie durchgekommen.

Dieses Bild wirkte lange, zum Teil bis in die Gegenwart. Märchen sind allerdings nicht mehr so en vogue. In neueren Kinderbüchern ist der Wolf nur noch selten  böse  wie etwa der Haifisch-Kapitalist in Der kleine kluge Hase. Der verschleppt kleine niedliche Hasen als Zwangsarbeiter in seine Fabrik, in der sie Hasenfallen herstellen müssen. In den meisten Kinderbüchern lernt man den Wolf heute ganz anders kennen.

In Achtung Wolf (Knesebeck, ab 4) hockt er am Bett eines schlafenden Mädchens und versucht sie zu wecken und zu erschrecken. Die Kleine schlummert aber einfach weiter und irgendwann kommt die Oma, packt sich den Wolf und trägt ihn in sein rosa Plüschkörbchen zurück.

In Die wilden Strolche versuchen die wilden Wölfe, sich Manieren zu zulegen, damit die anderen Tiere sie vielleicht doch endlich mal mögen.

Der Wolf, der aus dem Buch fiel (Ravensburger, ab 4) irrt etwas hilflos durchs Bücherregal und sucht eine neue Geschichte, in die er hineinschlüpfen kann; eine Hauptfigur nach der anderen schickt ihn barsch wieder weg. Bis er ein kleines Mädchen in roter Kapuzenjacke trifft, dass alleine im Wald sitzt und sich freut über den neuen Spielkameraden.

Und Der Wolf im rosa Nachthemd (Moritz, ab 4) stolpert durch den Wald, verheddert sich im Saum des von der Großmutter geklauten Nachthemdes, fällt auf die Nase und wird von allen ausgelacht. Der Wolf als Witzfigur!

Wirkt allerdings nur dann so gut, wenn man Rotkäppchen und Co kennt und damit auch das Klischee „böse und gefährlich“, mit dem hier jeweils gespielt wird. Was bei Kindern von heute aber nicht unbedingt der Fall ist, ihr Wolfsbild ist wesentlich schmusiger und so manches Kind hat auch einen als Kuscheltier.

Was Rotkäppchen und die drei kleinen Schweinchen mit dem kleinen Wolfskind so alles machen wollen in Wenn wir groß sind (Moritz, ab 3) – nicht mitspielen lassen, wegzaubern, einsperren, mit der Mistgabel in den Hintern pieksen – finden die Kids von heute deshalb auch gar nicht mal soo lustig, sondern  gemein. Oder dass sie in Da kommt der Wolf (Moritz, ab 2) versuchen sollen, den Wolf loszuwerden, in dem sie das Buch drehen, schütteln, kippen, klappen. Warum?

In Der Wolf kommt nicht ist das Häschen genau darüber traurig, weil es sich so freuen würde, wenn der Wolf es einmal besuchen würde.

Leichte Sprache heißt nicht, dass der Inhalt leicht ist, im Gegenteil, es geht darum, normalen und wichtigen Inhalt leicht verstehbar zu formulieren.

Normale Kinder und Jugendliche kamen in den Blick, seit in den vergangenen Jahren so viele Menschen mit keinen und nur geringen Deutschkenntnissen zu uns gekommen sind und darunter auch viele junge Menschen, die noch oder wieder oder zum ersten Mal hier zur Schule gehen. Es brauchte Texte und Lehrwerke und Bücher, die sich  inhaltlich an ältere Kinder und Jugendliche richteten, vom Sprachniveau aber an Anfänger. Mittlerweile gibt es Bücher – oder Büchersets – die ein und dieselbe Geschichte zwei- bis dreifach erzählen, jeweils auf verschieden Schwierigkeitsniveaus.

Die Klischees und Assoziationen, mit denen diese Bücher spielen, kennen die Kinder von heute weniger als früher. Dafür andere, die Wildnis als großer Kuscheltierzoo zum Beispiel. Schon im Dschungelbuch ist es eine Wölfin, die den kleinen Menschenjungen Mogli rettet. Auch andere Raubtiere und Wildtiere sind in Kinderbüchern immer öfter harm- und zahnlos.

In Tafiti gibt es einen vegetarischen Adler; Fischotter Otto bekommt in Ein Fisch für Otto (Leuhenhagen & Paris, ab 5) einen Fisch als besten Freund; und der Fuchs, der keine Gänse beißen wollte, sondern lieber Gänseblümchen frisst.

Auch Fledermäuse, früher Ungeziefer, sind heute Sympathieträger und Symbolfiguren für aktiven und gelungenen Naturschutz. Im Kinderroman Funklerwald (Oetinger) ist es Maushard, die weise Fledermaus, die dem Frischling Borste und dem Luchsmädchen Lumi mit gutem Rat zur Seite steht, damit ihr neuer Freund, der kleine Waschbär Rus, im Funklerwald bleiben darf. Überflüssig zu sagen, dass Lumi, anderes als normale Luchse, nicht gerne jagt.

In Ein Freund wie kein anderer tun sich ein Wolf und ein Erdhörnchen zusammen. Was nicht einfach ist, nicht nur weil Wölfe eigentlich Erdhörnchen fressen oder eben andere kleine Tiere; sondern auch weil weder die anderen Wölfe noch die Erdhörnchen es gut finden, wenn ein Wolf und ein Erdhörnchen befreundet sind. 

Darf man nicht einfach mal nur Wolf sein?

Vielleicht würden sich echte Füchse, Fischotter und Fledermäuse beschweren, dass sie und ihre Kollegen so vermenschlicht und verniedlicht werden. Und die Wölfe wohl auch: „Erst Gott, dann Monster, jetzt der nette Naturbursche. Darf man nicht einfach mal nur Wolf sein? “

Wölfe sind nämlich weder Schädling noch Kuscheltier. Nicht schwarz oder weiß, sondern grau. Ein Tier, ein Wildtier, ein Raubtier, das hier in Deutschland auch wieder seinen Lebensraum hat, wie in so vielen anderen Ländern schon immer und nach wie vor.  Natürlich darf man Angst vor Wölfen haben, oder besser: Respekt. Sollte man sogar. Wenn unsere Kinder denken, Wölfe und Co seien „lieb“ und beim Sonntagsspaziergang stehen sie plötzlich mal einem gegenüber, kann das neue Kuscheltier-Klischee vielleicht sogar gefährlich werden. Zwar sind meisten Wildtiere scheu und bleiben in Deckung, wenn Zweibeiner unterwegs sind, aber man kann auch mal an ein besonders neugieriges Exemplar geraten, ein Jungtier, oder einen Wolf, der eben gerade durch Fütterung oder andere Maßnahmen an Menschen gewöhnt keine natürliche Scheu mehr hat.

Genau das passiert in Viktor und der Wolf. Der Junge Viktor findet auf seinem Abenteuerspielplatz einen Wolf. Das Tier ist krank und der Junge, fasziniert und ängstlich zu gleich, kümmert sich um Hilfe und besucht ihn dann täglich in der Quarantänestation des Tierparks. Hier ist der Wolf kein Kuscheltier: er frisst Fleisch, tote Tiere mit Fell und Blut; und er beißt Viktor in den Arm, als der dem misstrauischen, misshandelten Streuner zu nahe kommt. In dieser Art gibt es mittlerweile eine Menge anderer Kinderbücher, die romanhaftes Geschehen mit spannendem und echtem Wolfswissen verknüpfen, zum Beispiel Vera und das Dorf der Wölfe,Wolfsnacht, Im Wald der Wölfe, oder Joki und die Wölfe. Da ist für jeden Geschmack und für jedes Lesealter etwas dabei. Sehr gut gelungen ist auch das Leselernbuch Ein kleiner Wolf braucht Hilfe.

Und es gibt auch den mythischen Wolf

Neben dem bösen Wolf von früher und dem niedlichen Wolf von heute gibt es noch den mythischen Wolf, vor allem in Romanen für etwas ältere Kinder. Die Moonlight Wolves zum Beispiel, in denen es verschiedene Clans mit jeweils eigener Kultur und eigenen Regeln gibt, die gemeinsam und auch mal gegeneinander für eine bessere Welt kämpfen, quasi ein Interntatsroman mit Wölfen und Fantasy.

 In Wild Rescuers geht es um Wölfe in der Welt von Minecraft: Wie die  zwölfjährige Stacy allein nur mit einem Rudel Polarwölfe in einem Wald abseits der Welt der Menschen lebt, ist es ein bisschen wie im Dschungelbuch. Und auf jeden Fall spannendes Lesefutter. Aber eben nicht die Realität. Denn: Wölfe sind wilde Tiere. Und mit denen verträgt man sich als Mensch am besten in respektvollem Abstand.

Fakten über den Wolf

Umso besser, dass es auch mehr und mehr Sachbücher gibt, die mehr Infos bereithalten als früher, als der Wolf in Deutschland noch kein Thema war. Wölfe  erzählt zwar auch „nur“ Fakten, aber das allerausführlichst und anschaulich anhand eines Wolfsrudels, dass sich jüngst auf einem deutschen Truppenübungsplatz angesiedelt hat.  Ähnlich ist es in der zu Herzen gehenden Sachbuchgeschichte überSim, das Wolfsjunge und ein bisschen poetischer in Der alte Wolf.

Wer tatsächlich in echt und nicht nur im Buch einen Wolf trifft, sollte den Anblick genießen – und ihn dann verjagen, rufen, in die Hände klatschen, mit den Armen fuchteln oder Stöcke schwenken, das raten Fachleute und Wolfsberater. Sich unbeliebt machen, könnte man sagen. Hunde gehören unbedingt an die Leine, denn sein Revier ist einem Wolf heilig und gegen jedes andere wolfs- oder hundeartige Wesen wird er es bis aufs Blut verteidigen. Und apropos Blut: Wölfe sind nicht nur wilde Tiere, sondern eben auch Raubtiere. Schafe, Ziegen, Kälber gehören wolfssicher hinter Zäune oder in den Stall. Das wussten schon die drei kleinen Schweinchen: „Ich habe ein schönes Haus von Stein, es ist so sicher und so fein. Und kommt der böse Wolf vorbei, dann lache ich, hihi, heihei.“

Und daran hat sich seit den Gebrüdern Grimm auch nichts geändert. Das erfährt auch das kleine Kaninchen in Achtung, Wolf!, als es nachliest,  wie sich die Geschichte mit Rotkäppchen damals wirklich abgespielt hat. Und feststellt, dass Wölfe keine Rotkäppchen fressen – aber eben neben Mäusen und anderem Kleinvieh auch Kaninchen auf ihrem Speiseplan stehen. Einen Wolf, der mit Kaninchen spielt statt sie zu reißen, den gibt es nur im zeitgenössischen Bilderbuch.

In Der Wolf und die Fliege frisst der kleine Wolf statt der sieben Geißlein Seite für Seite ein Regal voller Spielzeug und anderer Dinge leer.

Das können wir unseren Kindern natürlich erklären. Genauso wie man ihnen vermittelt, dass es die Monster, Drachen, Einhörner und Elfen aus den Büchern und Geschichten und Filmen nicht wirklich gibt – sind auch all die Wölfchens, Wolfis und Wölflein Wolfs nur erfundene Figuren. Und echte Wölfe in echt ganz anders.

Und wie sind sie nun, die Wölfe? Niedlich nicht, schon gar nicht lieb. Aber auch nicht böse. Gut und Böse sind menschliche Kategorien, die Tiere nicht kennen. Auch wenn Wölfe intelligente Tiere sind. Extrem fit, zäh und genügsam, sozial und als Familie im Rudel lebend… Aber eben doch Tiere und eigentlich einfach so wie sie sind. Und je mehr die Menschen sie so nehmen, und alle anderen wilden Tiere auch, desto besser wird das Neben- und Miteinander funktionieren. In den Geschichten können die Wölfe dann alle Rollen ausleben, die die Natur nicht für sie vorgesehen hat.

Und wenn sie nicht gestorben sind ….

"Der Wolf - Von der Bestie zum Kuscheltier." - Sigrid Tinz, April 2020
Titel-Motiv: © istock.com/hkuchera
Wolf mit Mond: © istock.com/cokada
Rotkäppchen: © 
istock.com/jcrosemann

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