Natur erlesen, Natur erleben

Bücher zu ökologischen Themen für Erwachsene gibt es seit Langem, in den letzten Monaten haben auch Kinderbuchverlage nachgezogen. Aber ein bisschen ist es wie mit den Geländewagen, von denen immer mehr durch immer weniger Gelände fahren: je weniger Kinder noch draußen in der Natur spielen und Vogelstimmen kennen, desto mehr idyllisch bebilderte Bücher gibt es, die Kindern genau das nahebringen wollen: Natur und Umweltschutz. Eigentlich ein Widerspruch in sich: Wer liest, klettert nicht auf Bäume, demonstriert für Klimaschutz oder trägt Kröten über die Straße. Sondern liest halt nur darüber.

Natürlich gibt es großartige Bücher, in denen die Natur großartig und unbedingt schützenswert rüberkommt: Wunder der Natur zum Beispiel – und diese Wunder sind oft spektakulär, oder noch öfter so klein und fein, dass wir sie kaum wahrnehmen. In diesem Buch werden in großflächigen, bunten, das Wundervolle ausstrahlenden Bildern 50 davon gezeigt: der Tau auf einem Blatt, ein Schmetterling, der sich entfaltet, Schneeflocken, Blüten, Bienen, Seeigel. Nüchterner und umfassender, aber auch wunderschön ist Kreisläufe der Natur: Vom Regentropfen bis ins Meer, vom Samen bis zur Frucht, vom Eierlegen bis zum Küken, wie Gebirge entstehen, Tiere wachsen, Pflanzen werden und vergehen und alles mit allem zusammenhängt, das wird hier vielseitig, ausführlich anschaulich und wunderschön beschrieben. So entsteht ein Bild von der Natur als fein austariertes Räderwerk und die kleinen Leser merken selbst, dass weniger einzugreifen mehr ist. Wer eine Raupe zertritt, tötet den Schmetterling.

Solches Wissen ist wichtig und gut. Denn was keiner kennt, schützt auch irgendwann niemand mehr – dieser Satz stimmt durchaus. Und wenn keiner weiß, wie das gehen könnte, auch nicht. Allerdings sind Umweltschutz und ökologische Zusammenhänge ziemlich komplexe Wissenschafts-Themen. Sie verständlich zu erläutern ohne sie platt zu vereinfachen, ist eine Kunst. Es gibt verschiedene Kinderbücher, in denen das absolut gelingt: So viel Müll zum Beispiel präsentiert die vielen Fakten, Fotos und Infografiken nicht nur verständlich, sondern auch noch unterhaltsam und das ist genauso wichtig wie wissenschaftliche Correctness. Denn sonst liest es ja keiner. Ähnlich gut: Schnee war gestern. Ja, Schnee war gestern, ewiges Eis auch, oder zumindest gab es früher mehr davon. Das Klima verändert sich und mit uns die Welt, das wissen und merken wir alle. Wieso, weshalb, warum, das erläutert das Buch bunt und anschaulich für Grundschulkinder. Mit beiden Themen - Müll und Klima - gleichzeitig befasst sich: Was fürn Müll. Eher ein Lese- als ein Sachbilderbuch, dafür kann man an einem Stück die Informationen entnehmen und muss nicht von Bild zu Grafik zu Textbaustein springen. Es gibt Checklisten zum Energiesparen und lustige Cartoons - genau das richtige, für gerne- und viellesende Umweltfreunde im Grundschulalter.

Essensretten ist ein eher neues Thema, läuft aber ebenfalls auf Ressourcenschonen und Energiesparen hinaus. Denn viel Natur wird durch intensive Landwirtschaft verbraucht und je weniger Lebensmittel weggeworfen werden, desto besser. Nun ist (das ohnehin illegale) Containering für die Zielgruppe noch nichts, aber auch zuhause in der Familie kann man viel Essen retten. So wie ein kleines Mädchen und ein herziges Wichtelwesen es tun im Buch Benja & Wuse: Essensretter auf großer Mission. Eine schöne, lustige Bilderbuchgeschichte zum Vorlesen, ganz genau aus dem Familienalltag und mit viel Hintergrund und guten Tipps verwoben. Erkenntnisse gibt’s also zum Lesespaß ganz nebenbei und am Ende für alle Eis aus braunen Bananen und Chips aus trockenem Brot.

Auch Plastik ist ein wichtiger Aspekt der Umwelt-Thematik: und im Buch Grüne Helden – Ohne Plastik geht es auch das einzige. Plastik begegnet uns vom Frühstück bis zum abendlichen Zähneputzen in jeglicher Form. All das erfährt man in kurzen Sachtexten und bilderbuchtauglichen Illustrationen. Am Ende ist man rundum informiert. Und bekommt viele Ideen, was man tun kann. Denn das ist wichtig, ansonsten ist zwischen Wissen und Kennen, zwischen Lesen und Erleben ein Unterschied wie zwischen Vitamintabletten und einer Handvoll selbstgepflückter Walderdbeeren.

Buch und Erlebnis als Einheit

Umfragen zeigen immer wieder: für viele Kinder und Jugendliche ist Natur schön und schutzbedürftig – aber nichts, zu dem sie eine wirkliche Beziehung haben. Man spendet für Wale, kennt die physikalischen Grundlagen des Treibhauseffekts, googelt alles über Müllstrudel im Pazifik – und tritt die Raupe trotzdem achtlos tot.

Besser für die Welt und Umwelt sind Bücher, bei denen sich Buch und Erlebnis unterstützen und ergänzen. Sachbücher, die das Alltägliche interessant verpacken, nachvollziehbar machen und das echte Erlebnis nicht zu einer Enttäuschung herunterstufen. Auf einem normalen Ausflug trifft man nur selten Dachse, Luchse oder Feuersalamander. Sondern findet, wenn überhaupt, zerfledderte Federn, angenagte Zapfen, irgendwelche Köttel, leere Nester, Knochen, Stöcke. Komm, wir gehen raus ist so ein Erlebnisbuch, das Anregung und erste Ideen liefert. Alles, was hier beschrieben und vorgeschlagen wird, kann man tatsächlich vor der Haustür finden und nachmachen. Insgesamt 40 verschiedene Ideen enthält das Buch: Boote und Wanderstöcke basteln, Tiere suchen, Baumgeister aus Lehm und Matsch kreieren, Musik und Wahrnehmungsübungen sind dabei.

Oder Kommst du mit nach draußen? - der nächste Titel des schreibenden Försters Peter Wohlleben, der nach seinen Bestellern für Erwachsene jetzt auch Kinderbücher produziert. Hier geht es in einem bunten, informativen, unterhaltsamen und rundum guten Streifzug durch die Natur direkt im Umfeld der Kinder, durch Garten und Stadt.

Und für die ganz Kleinen: Nina und Jan entdecken die Natur:  Nina und Jan sind zwei Geschwister, die in mehreren Büchern bereits einiges entdeckt und erlebt haben. In diesem Buch machen sie sich zusammen mit ihrem Hund Wuff auf, die Natur zu erkunden, und finden dabei viel, was sie den kleinen Zuhörern und Zuschauern präsentieren und zum Nacherleben schmackhaft machen: Nüsse, Kastanien, Federn und Steine, Vögel und Insekten, Bäume und Wildblumen und das jeweils zu den verschiedenen Jahreszeiten.

Alle Erfahrung zeigt, dass die meisten Kinder mit Umweltschutz null Probleme haben. Reste essen, mit Müll basteln. Mitmachen.  Super dafür ist#Basteln for Future und insofern besonders, verglichen mit den regalmeterweisen sonstigen Bastelbüchern zum Upcyling und Basteln mit Naturmaterialien, dass hier auch Kleber, Farben und Papier selbst hergestellt werden; das schafft erstens ein Bewusstsein, wie „so was“ geht und wie einfach und schadstofffrei es sein kann.

Für kleine Theoretiker

Kleine Theoretiker gibt es allerdings auch, die sich vor selbstgerührtem Kleisterkleber eher schütteln als mit Freude mitzumatschen. Aber „Wenn du willst, dass jemand ein Schiff baut, gib ihm kein Werkzeug, sondern wecke in ihm die Sehnsucht nach dem Meer“ - dieser Satz von Antoine de Saint-Exupéry passt abgewandelt auch hier: „Wenn du willst, dass jemand die Natur kennt, achtsam nutzt und schützt, dann füll ihn nicht mit Utopien und Fakten ab, sondern wecke in ihm die Sehnsucht danach, draußen zu sein und das auf irgendeine Art zu erhalten.“

Dafür sind auch Romane und erzählende oder fantasievolle Bilderbücher gut geeignet, in denen Natur, Umwelt und Klima eine Rolle spielen. Zum Beispiel Unheimliche Umweltmonster: In diesem Buch sind abstrakte Umweltgefahren verwandelt in konkrete Monster, die man so oder ähnlich aus Sagen, der Antike und aus Fantasyfilmen kennt. Diese Umweltmonster sprechen selbst, mit viel Fantasie und Persönlichkeit. Dazu kommen hoch informative Schaubilder, die aussehen wie kleine grafische Kunstwerke. Und es lässt die Kinder nicht resigniert zurück, darüber, dass man als einzelner gegen so Abstraktes wie Luftverschmutzung und Flächenversiegelung wenig ausrichten kann. Sondern vermittelt das Gefühl, es geht gegen ein konkretes Monster. Und da kann jeder zum Helden oder zur Heldin werden.

Spannend ist auch: Wir alle für unsere Erde. Das ist ein gereimtes Bilderbuch und vermischt die Geschichte von Greta Thunberg und die Herausforderungen der Klimaerwärmung mit fantasievollen und freundlichen Illustrationen und poetischen, aber einfachen Versen. Oder: Der Tag, an dem das Meer verschwand. Ein kleiner Junge, der das Meer liebt und seinen Plastikstrohhalm hineinfallen lässt, beschwört damit die Katastrophe herauf: Denn dieser Strohhalm war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt oder: besser das Meer zum Verschwinden. Der Junge macht sich auf, das Meer zu finden und es zu bitten, zurückzukommen. Unterwegs trifft er echte Umweltprobleme wie in Plastik gefangene Seevögel und magische Wesen wie Meerjungfrauen. Die Botschaft, dass es auf jeden ankommt, ist hier in ein wunderschön bebildertes Märchen verpackt. Noch ein gutes Buch: Ein Baum für Tomti: Drei Kinder finden einen Baumgeist in ihrer Zimmerpflanze. Einen Baum im Wald hätte er aber viel lieber, also ziehen die Kinder los, ihm einen neuen zu suchen.  Das ist gar nicht so leicht, denn es gibt eher wenig Bäume, und die, die es gibt, sind schon bewohnt oder aus anderen Gründen ungeeignet. Bis für Tomti der richtige Baum gefunden ist, lernen die Leser und Leserinnen jede Menge Bäume kennen. Daneben steckt dieser Roman voll mit Spannung, Freundschaftsthemen und viel Fantasie. Und die ist mindestens so wichtig wie das Fachwissen. Wer das Buch gelesen hat, wird beim nächsten Gang nach draußen die Natur und die Bäume mit anderen Augen sehen. In Agatha Merkwürdens Racheblumen spielt Melissa die Hauptrolle. Melissa lebt in Klein-Sterilitz und so wie der Name der Stadt ist es dort auch: Kleinlich, steril, betongrau, trist und traurig. Eines Tages bekommt das Mädchen kaum bezwingbare Lust, Blumen zu säen und schnell geht alles drunter und drüber, wird bunter und grüner. Mehr zu verraten wäre schon gespoilert. Nur so viel: der Roman ist spannend, fesselnd, traurig, humorvoll, amüsant und voller Liebe zur Natur.  Hier weicht mal Beton dem Grün, nicht umgekehrt.

Allerdings müssen Natur und Wildnis nicht unbedingt die großartige Hauptrolle spielen, eine wie selbstverständliche Nebenrolle für die Natur reicht. Wie in Krasshüpfer, wo zwei Brüder um einen Kellerraum rangeln. Der eine will dort Schlagzeug spielen, der andere hegt und pflegt, beobachtet und züchtet dort Insekten: Tausendfüßler, Grashüpfer, Würmer, Schnecken, Grillen, Ohrwürmer, Rosenkäfer und Heuschrecken, füttert Kohlweißlingraupen mit Rotkohl, um ein Mädchen mit rosa Schmetterlingen beschenken zu können. Oder wie in der schön und leicht und zum Runterlesen geschriebenen Mädchenreihe Lilo auf Löwenstein, in der Lilo und andere Kinder im Wald und in den Wiesen spielen, mit Sonnenschein, Kletterbäumen und Bächen zum Reinfallen.

Mit Tieren und Bäumen auf du und du. Schön, oder?

Und: Ein gutes Buch lesen, das kann man ja auch draußen! Im Park oder im Garten oder auf einer hummelumsummten Blumenwiese, und sich dabei einen Marienkäfer die Finger krabbeln lassen – und die Amseln mit den Resten vom Schulobst füttern. Als Lektüre für die Hängematte ist dieses Buch sehr zu empfehlen: Wale retten, Igeln helfen, Erde schützen. Im Mittelpunkt stehen all die tollen Tiere unserer Erde, von der Blaumeise bis zum Buckelwal, vom Hirschkäfer zum Wollhaarmammut. Einerseits. Andererseits geht es nicht isoliert um Artenschutz im Sinne von Geld spenden für Panda-Patenschaften oder Nistkästen aufhängen. Sondern verknüpft alles mit allem: Energiesparen, Fisch aus nachhaltigem Fang essen, regional einkaufen und so weiter. Weil alles mit allem zusammenhängt, hilft das auch allen Arten. Ein wunderschönes Bilderbuch voller Tiere – zum Weltverbessern.

Tipp: Mehr Bücher, mehr Umwelt, mehr Mitmachen?

Unter nemo-vision.de finden Eltern und auch Lehrer jede Menge Mitmach-Umweltbuchtipps und noch viele Inhalte und Materialien mehr. „Nemo“ ist ein Projekt des gemeinnützigen Earth Vision GmbH, mit dem Ziel, Grundschulkinder für Natur und Umwelt zu begeistern, sie sanft und mit Spaß an Bücher und Medien zu führen. Lese- und Naturerlebnis gehen dabei immer Hand in Hand.

Ökologisch lesen – geht das?

Denn auch Bücher sind ja Produkte. Zehntausende Bäume jährlich werden nur für die deutschsprachigen Bücher verbraucht, eine Tonne Papier zu produzieren verbraucht etwa so viel Energie wie die Produktion einer Tonne Stahl. Dazu kommen Druckfarben und andere Chemikalien, der Vertrieb mit Diesel-LKW und so weiter. Damit der Kunde trotzdem freudig und ohne schlechte Gewissen kauft, bemühen sich die Hersteller alles so green und clean wie möglich zu machen. Auch wenn keiner weiß, was green überhaupt ist und was echt ist oder doch nur Greenwashing. Klimaneutral zum Beispiel heißt nicht, dass bei der Produktion kein CO2 anfällt. Sondern dass der Hersteller irgendwo anders Klimagutscheine erwirbt und in klimafreundliche Projekte investiert. Recyclingpapier ist meist ein „Mix“, ohne zu sagen in welchen Mischungsanteilen. Und das Siegel FSC garantiert, dass der Baum aus verantwortungsvoller sozialer und ökologischer Landwirtschaft stammt und die Druckerei das dokumentieren kann. Ob und wann und wie für die Plantage heimischer Urwald abgeholzt worden ist, steht nirgends und wie umweltfreundlich der tote Baum dann zu Papier gemacht wurde, auch nicht. Das Ökologische ist eher eine Marketingstrategie als eine wirklich konsequente Haltung.  Besser wäre wie auch immer: weniger. Weniger produzieren, weniger konsumieren, weniger wegwerfen. Beim Thema Bücher heißt das: gebrauchte Bücher zu kaufen, ausgelesene Bücher zu verkaufen oder zu verschenken, Bücherschränke, die es in vielen Städten gibt zu bestücken und zu nutzen. Oder das gute alte System Bücherei zu nutzen.

"Natur erlesen, Natur erleben" - Sigrid Tinz, Mai 2021
Titelfoto: © istock.com/Imgorthand

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